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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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oder dem andern Gesichtspunkte, so wird dieselbe eine sehr verschiedenartige sein.
Unter dem letztern Gesichtspunkte wird sie alles von ihrem Schrecken verlieren.
Unter diesem aber muß sie betrachtet werden, und doch geschieht dies nicht; im
Gegentheil die absoluten Freihändler betrachten sie mit Vorliebe unter dem
erster" Gesichtspunkte. Das würde allerdings Rückkehr zu den ungeheuerlichsten
Zollen bedeuten. Diese ist aber schon deshalb nicht möglich, weil die deutsche
Industrie hoher Zölle überhaupt nicht bedarf. Wo also Erhöhungen eingetreten
sind, da hat sich herausgestellt, daß sie ihren hauptsächlichen Grund in den
übereilten und sprungweisen Zollermäßigungen der vorausgegangenen Jahre
finden.

Nur auf Grundlage eines autonomen Tarifes läßt sich eine wirksame-
Retorsionspolitik erstreben. Wirksam ist aber eine Netorsionspolitik hauptsächlich
dann, wenn sie sich nicht auf die Defension beschränkt, sondern selbständig
aggressiv vorgeht. Uns Deutschen als Freihändlern, welche bereits über die
Grenze des nach unsern concreten wirthschaftlichen Verhältnissen dem Auslande
zu Gewährenden hinausgegangen find, stehen als Renitente besonders Rußland,
Amerika, Oesterreich und Frankreich gegenüber. Wir find im Stande, an der
Hand eines autonomen Tarifes die drei erstem durch Getreidezölle, Frankreich
durch Luxuszölle, Amerika und Rußland durch Schifffahrtsbestimmungen in
Verbindung mit obigen Zöllen zu zwingen, unseren billigen Forderungen zu
willfahre". Wahrscheinlich würde schon eine Drohung genügen, denn jene
Nationen würden sich sagen müssen, daß Deutschland, nachdem es einmal eine
solche Maßregel ergriffen hat, dieselbe schon in Rücksicht auf seine dadurch
angeregte Landwirthschaft zwar plötzlich einführen, aber nur allmählich wieder
und auch nur xiAckatiiu, genau nach den Worten von Adam Smith, ab¬
stellen kann.

Daß man "Handelsverträge" im Gegensatz zur "Autonomie der Tarife" in
Deutschland zu loben und zu preisen nicht aufhört, paßt ebenfalls mehr in die
verflossenen Decennien als in die Handelspolitik des heutigen Tages. Die
Handelsverträge haben eine sehr gute Wirkuug gehabt, aber das vorgesteckte
Ziel kann jetzt auf diesem Wege nicht weiter erreicht werden. Die Handelsverträge
bildeten durch ihre Klausel der "meistbegünstigten Nation" (wonach eine Ermäßi¬
gung, die irgend einer Nation zugestanden wurde, damit sofort auch allen andern
Nationen, welche den gleichen Vertrag acceptirt hatten, zu Theil werden sollte)
einen ausgezeichneten Drücker zur Verallgemeinerung des Freihandels. In der
That sind durch diesen gelinden Zwang practisch mehr Zölle gefallen und ermäßigt
worden, als die erweiterte Erkenntniß sonst zuwege gebracht hätte; aber das
Eude ist doch gewesen, daß dem stürmischen und radicalen Vorgange Deutschlands
in demselben Maße kein anderes Land gefolgt ist, daß vielmehr einige Länder


oder dem andern Gesichtspunkte, so wird dieselbe eine sehr verschiedenartige sein.
Unter dem letztern Gesichtspunkte wird sie alles von ihrem Schrecken verlieren.
Unter diesem aber muß sie betrachtet werden, und doch geschieht dies nicht; im
Gegentheil die absoluten Freihändler betrachten sie mit Vorliebe unter dem
erster» Gesichtspunkte. Das würde allerdings Rückkehr zu den ungeheuerlichsten
Zollen bedeuten. Diese ist aber schon deshalb nicht möglich, weil die deutsche
Industrie hoher Zölle überhaupt nicht bedarf. Wo also Erhöhungen eingetreten
sind, da hat sich herausgestellt, daß sie ihren hauptsächlichen Grund in den
übereilten und sprungweisen Zollermäßigungen der vorausgegangenen Jahre
finden.

Nur auf Grundlage eines autonomen Tarifes läßt sich eine wirksame-
Retorsionspolitik erstreben. Wirksam ist aber eine Netorsionspolitik hauptsächlich
dann, wenn sie sich nicht auf die Defension beschränkt, sondern selbständig
aggressiv vorgeht. Uns Deutschen als Freihändlern, welche bereits über die
Grenze des nach unsern concreten wirthschaftlichen Verhältnissen dem Auslande
zu Gewährenden hinausgegangen find, stehen als Renitente besonders Rußland,
Amerika, Oesterreich und Frankreich gegenüber. Wir find im Stande, an der
Hand eines autonomen Tarifes die drei erstem durch Getreidezölle, Frankreich
durch Luxuszölle, Amerika und Rußland durch Schifffahrtsbestimmungen in
Verbindung mit obigen Zöllen zu zwingen, unseren billigen Forderungen zu
willfahre«. Wahrscheinlich würde schon eine Drohung genügen, denn jene
Nationen würden sich sagen müssen, daß Deutschland, nachdem es einmal eine
solche Maßregel ergriffen hat, dieselbe schon in Rücksicht auf seine dadurch
angeregte Landwirthschaft zwar plötzlich einführen, aber nur allmählich wieder
und auch nur xiAckatiiu, genau nach den Worten von Adam Smith, ab¬
stellen kann.

Daß man „Handelsverträge" im Gegensatz zur „Autonomie der Tarife" in
Deutschland zu loben und zu preisen nicht aufhört, paßt ebenfalls mehr in die
verflossenen Decennien als in die Handelspolitik des heutigen Tages. Die
Handelsverträge haben eine sehr gute Wirkuug gehabt, aber das vorgesteckte
Ziel kann jetzt auf diesem Wege nicht weiter erreicht werden. Die Handelsverträge
bildeten durch ihre Klausel der „meistbegünstigten Nation" (wonach eine Ermäßi¬
gung, die irgend einer Nation zugestanden wurde, damit sofort auch allen andern
Nationen, welche den gleichen Vertrag acceptirt hatten, zu Theil werden sollte)
einen ausgezeichneten Drücker zur Verallgemeinerung des Freihandels. In der
That sind durch diesen gelinden Zwang practisch mehr Zölle gefallen und ermäßigt
worden, als die erweiterte Erkenntniß sonst zuwege gebracht hätte; aber das
Eude ist doch gewesen, daß dem stürmischen und radicalen Vorgange Deutschlands
in demselben Maße kein anderes Land gefolgt ist, daß vielmehr einige Länder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/108>, abgerufen am 22.07.2024.