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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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glieder), ist die unerläßlichste aller Befugnisse, welche für die Innungen zu er¬
streben sind. Im Uebrigen sind über das Maß derselben verschiedene Ansichten
möglich, und es ist anzunehmen, daß nicht nur die eventuelle Reichsgesetzgebung
den Bnndesgesetzen hierüber bedeutenden Spielraum lassen, sondern daß sogar
je nach den lokalen Verhältnissen die Befugnisse der Innungen sehr verschieden
geregelt werden mögen. Aber ganz ohne solche Rechtsbefngnisse geht es nicht;
als bloße freie Vereine können die Innungen nichts leisten, weil die Zahl der
Eigennutzigen und Gleichgiltigen und selbst der Böswilligen immer eine zu
große ist, und weil man den Guten nicht zumuthen darf, unaufhörlich Opfer
für die Gleichgiltigen und Schlechten zu bringen. Auf das Lehrlingswesen
findet dies ganz vorzugsweise Anwendung. Es hat einige Zeit gedauert, bis
ein Theil des Gewerbestandes sich von dem verführerischen Klänge des Wortes
"freie (d. h. der staatlichen Gesetzgebung nicht bedürfende) Innungen" losge¬
macht und damit die zweite Klippe überwunden hatte, und es darf ausgesprochen
werden, daß gerade jener obenerwähnte, der Jnnungsidee freundlich gesinnte
liberale Führer, Oberbürgermeister Miguel in Osnabrück, bedeutend dazu bei¬
getragen hat, die Illusion, als könnten freie Vereine eine Funktion des staat¬
lich-sozialen Lebens erfüllen, zu zerstören.

Aber ist denn nicht dieser Jnnungsgedanke trotz allem, was sich für seine
Berechtigung und für die Trefflichkeit seiner Zwecke sagen läßt, ein Anomalie?
Liegt nicht in Hin eine "Reaktion" und die halb eingestandene, halb noch vor¬
sichtig verhüllte Idee verborgen, Zustände wiederherzustellen, die denen des
mittelalterlichen Zunftwesens analog sind, demgemäß jetzt nur noch als Zopf,
als Behinderungen der freien Geltendmachung persönlicher Tüchtigkeit und der
freien wirthschaftlichen Entwickelung gelten können? In der That, in den meisten
liberalen Kreisen würden diese Fragen heute noch, wollte man die eigentliche
Herzensmeinung aussprechen, mit voller Entschiedenheit bejaht werden. Und
doch sind die Voraussetzungen dieser Bejahung so haltlos, daß eine kurze, un¬
befangene Betrachtung hinreicht, dies Jedem einleuchtend zu machen. Die erste
Bedingung dafür, daß das Innungswesen überhaupt neu zur Entfaltung komme
und Einfluß auf unser gewerbliches Leben gewinne, ist, wie die Handwerker
selbst stets betonen, das Vorhandensein eines entsprechenden, triebkräftigen
Geistes im Handwerkerstande. Im Mittelalter erzeugte dieser Geist, den da¬
maligen Verhältnissen gemäß, die wirthschaftlich geschlossenen Zünfte; heute
wird er, selbstverständlich durchtränkt von dem Geiste unserer Verhältnisse, ganz
andere Gebilde schaffen. Zu behaupten, daß diese Gebilde im wesentlichen
dasselbe sein müßten wie die alten Zünfte, hieße ebensoviel als behaupten, das
neue deutsche Reich müsse nothwendig in die Fußtapfen des Reiches der Salier
und Hohenstaufen treten. Daß die neue Zeit mit ihren besonderen Anforde-


Grenzbvten IV. 1379. 9

glieder), ist die unerläßlichste aller Befugnisse, welche für die Innungen zu er¬
streben sind. Im Uebrigen sind über das Maß derselben verschiedene Ansichten
möglich, und es ist anzunehmen, daß nicht nur die eventuelle Reichsgesetzgebung
den Bnndesgesetzen hierüber bedeutenden Spielraum lassen, sondern daß sogar
je nach den lokalen Verhältnissen die Befugnisse der Innungen sehr verschieden
geregelt werden mögen. Aber ganz ohne solche Rechtsbefngnisse geht es nicht;
als bloße freie Vereine können die Innungen nichts leisten, weil die Zahl der
Eigennutzigen und Gleichgiltigen und selbst der Böswilligen immer eine zu
große ist, und weil man den Guten nicht zumuthen darf, unaufhörlich Opfer
für die Gleichgiltigen und Schlechten zu bringen. Auf das Lehrlingswesen
findet dies ganz vorzugsweise Anwendung. Es hat einige Zeit gedauert, bis
ein Theil des Gewerbestandes sich von dem verführerischen Klänge des Wortes
„freie (d. h. der staatlichen Gesetzgebung nicht bedürfende) Innungen" losge¬
macht und damit die zweite Klippe überwunden hatte, und es darf ausgesprochen
werden, daß gerade jener obenerwähnte, der Jnnungsidee freundlich gesinnte
liberale Führer, Oberbürgermeister Miguel in Osnabrück, bedeutend dazu bei¬
getragen hat, die Illusion, als könnten freie Vereine eine Funktion des staat¬
lich-sozialen Lebens erfüllen, zu zerstören.

Aber ist denn nicht dieser Jnnungsgedanke trotz allem, was sich für seine
Berechtigung und für die Trefflichkeit seiner Zwecke sagen läßt, ein Anomalie?
Liegt nicht in Hin eine „Reaktion" und die halb eingestandene, halb noch vor¬
sichtig verhüllte Idee verborgen, Zustände wiederherzustellen, die denen des
mittelalterlichen Zunftwesens analog sind, demgemäß jetzt nur noch als Zopf,
als Behinderungen der freien Geltendmachung persönlicher Tüchtigkeit und der
freien wirthschaftlichen Entwickelung gelten können? In der That, in den meisten
liberalen Kreisen würden diese Fragen heute noch, wollte man die eigentliche
Herzensmeinung aussprechen, mit voller Entschiedenheit bejaht werden. Und
doch sind die Voraussetzungen dieser Bejahung so haltlos, daß eine kurze, un¬
befangene Betrachtung hinreicht, dies Jedem einleuchtend zu machen. Die erste
Bedingung dafür, daß das Innungswesen überhaupt neu zur Entfaltung komme
und Einfluß auf unser gewerbliches Leben gewinne, ist, wie die Handwerker
selbst stets betonen, das Vorhandensein eines entsprechenden, triebkräftigen
Geistes im Handwerkerstande. Im Mittelalter erzeugte dieser Geist, den da¬
maligen Verhältnissen gemäß, die wirthschaftlich geschlossenen Zünfte; heute
wird er, selbstverständlich durchtränkt von dem Geiste unserer Verhältnisse, ganz
andere Gebilde schaffen. Zu behaupten, daß diese Gebilde im wesentlichen
dasselbe sein müßten wie die alten Zünfte, hieße ebensoviel als behaupten, das
neue deutsche Reich müsse nothwendig in die Fußtapfen des Reiches der Salier
und Hohenstaufen treten. Daß die neue Zeit mit ihren besonderen Anforde-


Grenzbvten IV. 1379. 9
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/69>, abgerufen am 03.07.2024.