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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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rungen den neuen Innungen kein Fremdes und Feindliches ist, dürste schon
daraus hervorgehen, daß wenigstens die hauptsächlichsten Träger der Idee stets
daran festgehalten haben, für die unselbständigen Arbeiter müsse ein regelmäßiger
Zusammenhang mit der Innung und eine Vertretung in derselben hergestellt
werden. Die Strömung der Zeit, die der Liberalismus mit so gutem Rechte
für sich anzurufen pflegt, müßte wahrlich eine jämmerlich schwache sein, wenn
es ihr nicht einmal gelänge, Vereinigungen zu durchdringen, welche mitten in
ihr stehen und unaufhörlich von unten und von außen her mit neuen Elemen¬
ten durchsetzt werden. Was aber die "Reaktion" betrifft, so ist allerdings nicht
zu leugnen, daß eine solche hier erstrebt wird. Aber "Reaktion" bedeutet nicht,
wie Viele glauben, "Rückschritt", sondern es heißt einfach "Gegendruck" und
kann in diesem Sinne auch die Bedeutung von "Wiederherstellung" annehmen.
Die Reformation war auch eine Reaktion gegen den eingerissenen todten Formen¬
kram und gegen den frivolen Skeptizismus der Kirchenfürsten; das neue deutsche
Reich ist auch eine Reaktion gegen die Territorial-Zersplitterung Deutschlands
und gegen die theils kosmopolitische, theils partikularistisch - enge Anschauungs¬
weise seiner Bewohner, und es fehlt ja auch keineswegs an Leuten, welche
bitter darüber klagen, daß die Reformation aus der beginnenden religiösen
Indifferenz heraus eine Reaktion zu christlich-religiösem Fanatismus, und daß
das neue deutsche Reich aus dem beginnenden Weltbürgerthum heraus eine
Reaktion zu nationaler Engherzigkeit gewesen sei. Wenn also die nämlichen
und vielleicht noch andere Leute über die reaktionären Tendenzen der Jnnungs-
idee räsonniren, so befindet letztere sich in guter Gesellschaft. Auch sie will
Etwas wiederherstellen, was dem deutschen Volke, nicht zu seinem Heile, ver¬
loren gegangen ist.

Hierbei steht die Jnnungsidee im Bunde mit dem Besten, was die Ent¬
wickelung unserer Zeit aufzuweisen hat. Selbst die schwachen und unvollkom¬
menen Innungen, welche sich nach Lage der heutigen Gesetzgebung bilden
konnten, haben schon jetzt, nach wenigen Jahren des Bestehens, die bedeutendsten
Erfolge aufzuweisen und jedenfalls den besten Willen an den Tag gelegt. Eine
ganze Anzahl von ihnen haben Fachschulen gegründet, ein Jnnungsverband
derjenige der Uhrmacher, hat sogar eine treffliche Lehrwerkstätte*) ins Leben



*) Unter "Lehrwerkstätte" kann zweierlei verstanden werden: eine Anstalt zur prakti¬
schen Weiterbildung in bestimmten, besonders schwierigen oder besonders kunstgewerblich
edlen Arbeiten, oder eine Anstalt, in welcher das ganze Gewerbe schulmäßig erlernt wird,
in welch' letzterem Falle derselbe also gänzlich an die Stelle der bisherigen Lehre tritt. Hier
ist eine Anstalt ersterer Art gemeint. Anstalten letzterer Art, welche übrigens von den be¬
rufensten Fachmännern längst als ungenügend anerkannt sind, werden heutzutage von ge¬
wisser Seite eifrig empfohlen, um das gewerbliche Lehrlingswesen und mit ihn, die Jnnungs¬
idee hinfällig zu machen.

rungen den neuen Innungen kein Fremdes und Feindliches ist, dürste schon
daraus hervorgehen, daß wenigstens die hauptsächlichsten Träger der Idee stets
daran festgehalten haben, für die unselbständigen Arbeiter müsse ein regelmäßiger
Zusammenhang mit der Innung und eine Vertretung in derselben hergestellt
werden. Die Strömung der Zeit, die der Liberalismus mit so gutem Rechte
für sich anzurufen pflegt, müßte wahrlich eine jämmerlich schwache sein, wenn
es ihr nicht einmal gelänge, Vereinigungen zu durchdringen, welche mitten in
ihr stehen und unaufhörlich von unten und von außen her mit neuen Elemen¬
ten durchsetzt werden. Was aber die „Reaktion" betrifft, so ist allerdings nicht
zu leugnen, daß eine solche hier erstrebt wird. Aber „Reaktion" bedeutet nicht,
wie Viele glauben, „Rückschritt", sondern es heißt einfach „Gegendruck" und
kann in diesem Sinne auch die Bedeutung von „Wiederherstellung" annehmen.
Die Reformation war auch eine Reaktion gegen den eingerissenen todten Formen¬
kram und gegen den frivolen Skeptizismus der Kirchenfürsten; das neue deutsche
Reich ist auch eine Reaktion gegen die Territorial-Zersplitterung Deutschlands
und gegen die theils kosmopolitische, theils partikularistisch - enge Anschauungs¬
weise seiner Bewohner, und es fehlt ja auch keineswegs an Leuten, welche
bitter darüber klagen, daß die Reformation aus der beginnenden religiösen
Indifferenz heraus eine Reaktion zu christlich-religiösem Fanatismus, und daß
das neue deutsche Reich aus dem beginnenden Weltbürgerthum heraus eine
Reaktion zu nationaler Engherzigkeit gewesen sei. Wenn also die nämlichen
und vielleicht noch andere Leute über die reaktionären Tendenzen der Jnnungs-
idee räsonniren, so befindet letztere sich in guter Gesellschaft. Auch sie will
Etwas wiederherstellen, was dem deutschen Volke, nicht zu seinem Heile, ver¬
loren gegangen ist.

Hierbei steht die Jnnungsidee im Bunde mit dem Besten, was die Ent¬
wickelung unserer Zeit aufzuweisen hat. Selbst die schwachen und unvollkom¬
menen Innungen, welche sich nach Lage der heutigen Gesetzgebung bilden
konnten, haben schon jetzt, nach wenigen Jahren des Bestehens, die bedeutendsten
Erfolge aufzuweisen und jedenfalls den besten Willen an den Tag gelegt. Eine
ganze Anzahl von ihnen haben Fachschulen gegründet, ein Jnnungsverband
derjenige der Uhrmacher, hat sogar eine treffliche Lehrwerkstätte*) ins Leben



*) Unter „Lehrwerkstätte" kann zweierlei verstanden werden: eine Anstalt zur prakti¬
schen Weiterbildung in bestimmten, besonders schwierigen oder besonders kunstgewerblich
edlen Arbeiten, oder eine Anstalt, in welcher das ganze Gewerbe schulmäßig erlernt wird,
in welch' letzterem Falle derselbe also gänzlich an die Stelle der bisherigen Lehre tritt. Hier
ist eine Anstalt ersterer Art gemeint. Anstalten letzterer Art, welche übrigens von den be¬
rufensten Fachmännern längst als ungenügend anerkannt sind, werden heutzutage von ge¬
wisser Seite eifrig empfohlen, um das gewerbliche Lehrlingswesen und mit ihn, die Jnnungs¬
idee hinfällig zu machen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/70>, abgerufen am 03.07.2024.