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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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seiner Vaterstadt und gewann daselbst wenn auch nicht eine vollständige Gymna¬
sialbildung, so doch eine solche, wie sie ein hochbefähigter und fleißiger Schüler
bis zum Abgange aus Secunda sich erwerben kann. Da dem Vater die Mög¬
lichkeit fehlte, den Sohn studiren zu lassen, so kam derselbe im Sommer 1825
in ein Kolonialwaarengeschäft zu Soest, in welchem er sich von der bescheidenen
Lehrlingsstellung zum Kommis emporarbeitete. Seine kargen Mußestunden be¬
nutzte er zu einem tüchtigen Studium der modernen Sprachen. Anfang 1832
trat der 21 jährige junge Mann in einem Bankgeschäft und Großhandlungshanse
zu Amsterdam als Kommis ein. Mehr und mehr kam ihm der Zwiespalt
zwischen seiner engen, nüchternen Lebensstellung und seiner dichterischen Anlage
zum Bewußtsein, und dieser Unmuth sprach sich nicht selten in wehmüthigen
oder bitteren Dichtungen aus. Zugleich aber war der weite Horizont der großen
Seestadt der poetischen Entwickelung Freiligraths förderlich. Hier erst gewann,
was die eifrige Lektüre seiner Knabenjahre an Kenntnissen und Vorstellungen
des Fremden aufgespeichert hatte, Leben und Gestalt im Beschauen des Fremd¬
artigsten, Mannigfaltigsten, Großartigsten; in der geräuschvollen Einsamkeit des
Amsterdamer Hafenlebens erwuchs Freiligrath zum Dichter.

Schon seit 1830 hatte er einzelne seiner Gedichte und Uebersetzungen in
westfälischen Lokalblättern und Almanachen erscheinen lassen, ohne daß die Zeit¬
genossen das in diesen Schöpfungen lebende außerordentliche und originelle
Talent erkannt hätten. Ein Versuch, sich durch feinen Landsmann Grabbe in
die Literatur einführen zu lassen, scheiterte, wie es scheint, an dessen Säumigkeit.
Von durchschlagender Wirkung dagegen war eine andere Verbindung, welche
Freiligrath anknüpfte: die mit dem in Berlin erscheinenden, von Chamisso und
Schwab herausgegebenen Musenalmanach. Ende 1833 schickte er Chamisso die
ersten Beiträge ein, welche im Jahrgang 1835 Aufnahme fanden und des
Dichters Namen alsbald weithin verbreiteten. Ende 1834 eröffnet er auch eine
Korrespondenz mit Gustav Schwab, welcher, minder schreibträge als Chamisso,
dem jungen Manne alsbald mit herzlichem Wohlmeinen und warmem Verständniß
entgegenkam. Freiligrath sandte einen Beitrag zum Schilleralbum, welcher,
obwohl verspätet, Aufnahme fand. In seiner Antwort vom 3. Januar 1835
bittet Schwab im Namen des Schiller - Komite's, Freiligrath möge "ganz gele¬
gentlich, doch nicht allzuspät, ihn wissen lassen, an welchem Tag und Jahr und
wo er geboren sei, sowie wo und in welcher Eigenschaft er Hause". Freiligrath
antwortete darauf im Februar 1835, wie folgt.

Den mir mit Ihren freundlichen Zeilen vom 3. vorigen Monats gemachten An¬
fragen bin ich zwar schon, noch ehe ich sie erhielt, durch meinen Brief vom 15. Januar
zuvorgekommen, mag es mir jedoch um so weniger versagen, Ihnen noch insbesondre


seiner Vaterstadt und gewann daselbst wenn auch nicht eine vollständige Gymna¬
sialbildung, so doch eine solche, wie sie ein hochbefähigter und fleißiger Schüler
bis zum Abgange aus Secunda sich erwerben kann. Da dem Vater die Mög¬
lichkeit fehlte, den Sohn studiren zu lassen, so kam derselbe im Sommer 1825
in ein Kolonialwaarengeschäft zu Soest, in welchem er sich von der bescheidenen
Lehrlingsstellung zum Kommis emporarbeitete. Seine kargen Mußestunden be¬
nutzte er zu einem tüchtigen Studium der modernen Sprachen. Anfang 1832
trat der 21 jährige junge Mann in einem Bankgeschäft und Großhandlungshanse
zu Amsterdam als Kommis ein. Mehr und mehr kam ihm der Zwiespalt
zwischen seiner engen, nüchternen Lebensstellung und seiner dichterischen Anlage
zum Bewußtsein, und dieser Unmuth sprach sich nicht selten in wehmüthigen
oder bitteren Dichtungen aus. Zugleich aber war der weite Horizont der großen
Seestadt der poetischen Entwickelung Freiligraths förderlich. Hier erst gewann,
was die eifrige Lektüre seiner Knabenjahre an Kenntnissen und Vorstellungen
des Fremden aufgespeichert hatte, Leben und Gestalt im Beschauen des Fremd¬
artigsten, Mannigfaltigsten, Großartigsten; in der geräuschvollen Einsamkeit des
Amsterdamer Hafenlebens erwuchs Freiligrath zum Dichter.

Schon seit 1830 hatte er einzelne seiner Gedichte und Uebersetzungen in
westfälischen Lokalblättern und Almanachen erscheinen lassen, ohne daß die Zeit¬
genossen das in diesen Schöpfungen lebende außerordentliche und originelle
Talent erkannt hätten. Ein Versuch, sich durch feinen Landsmann Grabbe in
die Literatur einführen zu lassen, scheiterte, wie es scheint, an dessen Säumigkeit.
Von durchschlagender Wirkung dagegen war eine andere Verbindung, welche
Freiligrath anknüpfte: die mit dem in Berlin erscheinenden, von Chamisso und
Schwab herausgegebenen Musenalmanach. Ende 1833 schickte er Chamisso die
ersten Beiträge ein, welche im Jahrgang 1835 Aufnahme fanden und des
Dichters Namen alsbald weithin verbreiteten. Ende 1834 eröffnet er auch eine
Korrespondenz mit Gustav Schwab, welcher, minder schreibträge als Chamisso,
dem jungen Manne alsbald mit herzlichem Wohlmeinen und warmem Verständniß
entgegenkam. Freiligrath sandte einen Beitrag zum Schilleralbum, welcher,
obwohl verspätet, Aufnahme fand. In seiner Antwort vom 3. Januar 1835
bittet Schwab im Namen des Schiller - Komite's, Freiligrath möge „ganz gele¬
gentlich, doch nicht allzuspät, ihn wissen lassen, an welchem Tag und Jahr und
wo er geboren sei, sowie wo und in welcher Eigenschaft er Hause". Freiligrath
antwortete darauf im Februar 1835, wie folgt.

Den mir mit Ihren freundlichen Zeilen vom 3. vorigen Monats gemachten An¬
fragen bin ich zwar schon, noch ehe ich sie erhielt, durch meinen Brief vom 15. Januar
zuvorgekommen, mag es mir jedoch um so weniger versagen, Ihnen noch insbesondre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/502>, abgerufen am 26.08.2024.