Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

lächerlicher," bemerkt dazu Becker, "nichts eitler und vergänglicher als solcher
Zahlenschwindel." "In England hatte die Internationale fast gar keine Mit¬
glieder, obwohl in ernsthaften, aber leichtgläubigen englischen Zeitschriften die
Zahl der dort zu ihr gehörigen Arbeiter auf mehr als hunderttausend ange¬
geben wurde. In Deutschland und Oesterreich zusammen betrug die Mitglieder¬
zahl ungefähr sechshundert. Noch schlimmer stand es in Italien; denn kaum
hatte sich hier ein wenig bedeutender Zweig gebildet, als er schon wieder ein¬
ging. Größer als anderwärts war die Mitgliederzahl in Spanien; aber hier
entzog man sich ganz und gar der Autorität des Londoner Generalrathes und
betrieb eine Partikularistische Bewegung." "Auch in Frankreich, wo die An-
hängerschaar der Herren Marx Comp. im Jahre 1870 marktschreierisch auf
dreimalhunderttausend angegeben wurde, war die Zahl derselben sehr gering.
In Paris betrug sie um die Osterzeit des ebengenannten Jahres höchstens
anderthalbtausend, und man fügte sich der Londoner Zentralstelle keineswegs
ohne Weiteres." Die Internationalisten in den Ländern romanischer Zunge
waren fast ausnahmslos Anhänger Proudhons, während die deutschen sich von
Marx und seinem Zentralrathe leiten ließen. Proudhon war anarchischer
Föderalist, Marx eifriger Zentralist. Die Franzosen fanden feine Schriften
schwerfällig, trocken, unpräzis und verzweifelt arm an Ideen. "Zwar war der
Bürger Marx ziemlich französirt, innerlich zersetzt und stets zum Verneinen
geneigt bis zum negativen Kommunismus, den er ins Positive umschlagen
lassen wollte; ja er verstand die Weltgeschichte nicht mehr wie der Autodidakt
Proudhon, aber letzterer, ebenfalls ein zersetzender Geist, hatte den unerme߬
lichen Vortheil, daß das Netzende und Verneinende in seiner Anarchielehre sich
bei ihm zum System gestaltete, wogegen der Bürger Marx so rein destruktiv
blieb, daß er zuletzt -- nach dem Fall der Kommune -- Proudhons anarchi¬
stische Kommunen-Föderation adoptiren mußte. Die Internationalisten Frank¬
reichs, Spaniens und Belgiens hielten sich zu Proudhon, weil derselbe seine
Anarchie in ein leicht verständliches System gebracht, ihnen eine Formel ge¬
liefert, ein Rezept verschrieben hatte."

In der Pariser Kommune hatte der Pariser Zweig der Internationale
kein Gewicht, und noch viel weniger galt der Londoner Generalrats dort etwas.
Als am 18. Mürz der Sieg den Revolutionären zugefallen war, suchten die
Pariser Internationalisten allerdings Einfluß auf die Bewegung zu gewinnen,
indem sie den Bürger Varlin in das Centralcomitc der Nationalgarde abord¬
neten, aber hier herrschten bis zuletzt die Blanquisten. Und so wenig wie auf
jenes Comite gewann der Pariser Zweig der Internationale auf die Kommune
irgend welchen nennenswerthen Einfluß. "Am 3. Mai erst entsandte der Föde¬
ralrath jenes Zweigs fünf seiner Mitglieder ins Stadthaus, um dort als


lächerlicher," bemerkt dazu Becker, „nichts eitler und vergänglicher als solcher
Zahlenschwindel." „In England hatte die Internationale fast gar keine Mit¬
glieder, obwohl in ernsthaften, aber leichtgläubigen englischen Zeitschriften die
Zahl der dort zu ihr gehörigen Arbeiter auf mehr als hunderttausend ange¬
geben wurde. In Deutschland und Oesterreich zusammen betrug die Mitglieder¬
zahl ungefähr sechshundert. Noch schlimmer stand es in Italien; denn kaum
hatte sich hier ein wenig bedeutender Zweig gebildet, als er schon wieder ein¬
ging. Größer als anderwärts war die Mitgliederzahl in Spanien; aber hier
entzog man sich ganz und gar der Autorität des Londoner Generalrathes und
betrieb eine Partikularistische Bewegung." „Auch in Frankreich, wo die An-
hängerschaar der Herren Marx Comp. im Jahre 1870 marktschreierisch auf
dreimalhunderttausend angegeben wurde, war die Zahl derselben sehr gering.
In Paris betrug sie um die Osterzeit des ebengenannten Jahres höchstens
anderthalbtausend, und man fügte sich der Londoner Zentralstelle keineswegs
ohne Weiteres." Die Internationalisten in den Ländern romanischer Zunge
waren fast ausnahmslos Anhänger Proudhons, während die deutschen sich von
Marx und seinem Zentralrathe leiten ließen. Proudhon war anarchischer
Föderalist, Marx eifriger Zentralist. Die Franzosen fanden feine Schriften
schwerfällig, trocken, unpräzis und verzweifelt arm an Ideen. „Zwar war der
Bürger Marx ziemlich französirt, innerlich zersetzt und stets zum Verneinen
geneigt bis zum negativen Kommunismus, den er ins Positive umschlagen
lassen wollte; ja er verstand die Weltgeschichte nicht mehr wie der Autodidakt
Proudhon, aber letzterer, ebenfalls ein zersetzender Geist, hatte den unerme߬
lichen Vortheil, daß das Netzende und Verneinende in seiner Anarchielehre sich
bei ihm zum System gestaltete, wogegen der Bürger Marx so rein destruktiv
blieb, daß er zuletzt — nach dem Fall der Kommune — Proudhons anarchi¬
stische Kommunen-Föderation adoptiren mußte. Die Internationalisten Frank¬
reichs, Spaniens und Belgiens hielten sich zu Proudhon, weil derselbe seine
Anarchie in ein leicht verständliches System gebracht, ihnen eine Formel ge¬
liefert, ein Rezept verschrieben hatte."

In der Pariser Kommune hatte der Pariser Zweig der Internationale
kein Gewicht, und noch viel weniger galt der Londoner Generalrats dort etwas.
Als am 18. Mürz der Sieg den Revolutionären zugefallen war, suchten die
Pariser Internationalisten allerdings Einfluß auf die Bewegung zu gewinnen,
indem sie den Bürger Varlin in das Centralcomitc der Nationalgarde abord¬
neten, aber hier herrschten bis zuletzt die Blanquisten. Und so wenig wie auf
jenes Comite gewann der Pariser Zweig der Internationale auf die Kommune
irgend welchen nennenswerthen Einfluß. „Am 3. Mai erst entsandte der Föde¬
ralrath jenes Zweigs fünf seiner Mitglieder ins Stadthaus, um dort als


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0403" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143458"/>
          <p xml:id="ID_1194" prev="#ID_1193"> lächerlicher," bemerkt dazu Becker, &#x201E;nichts eitler und vergänglicher als solcher<lb/>
Zahlenschwindel." &#x201E;In England hatte die Internationale fast gar keine Mit¬<lb/>
glieder, obwohl in ernsthaften, aber leichtgläubigen englischen Zeitschriften die<lb/>
Zahl der dort zu ihr gehörigen Arbeiter auf mehr als hunderttausend ange¬<lb/>
geben wurde. In Deutschland und Oesterreich zusammen betrug die Mitglieder¬<lb/>
zahl ungefähr sechshundert. Noch schlimmer stand es in Italien; denn kaum<lb/>
hatte sich hier ein wenig bedeutender Zweig gebildet, als er schon wieder ein¬<lb/>
ging. Größer als anderwärts war die Mitgliederzahl in Spanien; aber hier<lb/>
entzog man sich ganz und gar der Autorität des Londoner Generalrathes und<lb/>
betrieb eine Partikularistische Bewegung." &#x201E;Auch in Frankreich, wo die An-<lb/>
hängerschaar der Herren Marx Comp. im Jahre 1870 marktschreierisch auf<lb/>
dreimalhunderttausend angegeben wurde, war die Zahl derselben sehr gering.<lb/>
In Paris betrug sie um die Osterzeit des ebengenannten Jahres höchstens<lb/>
anderthalbtausend, und man fügte sich der Londoner Zentralstelle keineswegs<lb/>
ohne Weiteres." Die Internationalisten in den Ländern romanischer Zunge<lb/>
waren fast ausnahmslos Anhänger Proudhons, während die deutschen sich von<lb/>
Marx und seinem Zentralrathe leiten ließen. Proudhon war anarchischer<lb/>
Föderalist, Marx eifriger Zentralist. Die Franzosen fanden feine Schriften<lb/>
schwerfällig, trocken, unpräzis und verzweifelt arm an Ideen. &#x201E;Zwar war der<lb/>
Bürger Marx ziemlich französirt, innerlich zersetzt und stets zum Verneinen<lb/>
geneigt bis zum negativen Kommunismus, den er ins Positive umschlagen<lb/>
lassen wollte; ja er verstand die Weltgeschichte nicht mehr wie der Autodidakt<lb/>
Proudhon, aber letzterer, ebenfalls ein zersetzender Geist, hatte den unerme߬<lb/>
lichen Vortheil, daß das Netzende und Verneinende in seiner Anarchielehre sich<lb/>
bei ihm zum System gestaltete, wogegen der Bürger Marx so rein destruktiv<lb/>
blieb, daß er zuletzt &#x2014; nach dem Fall der Kommune &#x2014; Proudhons anarchi¬<lb/>
stische Kommunen-Föderation adoptiren mußte. Die Internationalisten Frank¬<lb/>
reichs, Spaniens und Belgiens hielten sich zu Proudhon, weil derselbe seine<lb/>
Anarchie in ein leicht verständliches System gebracht, ihnen eine Formel ge¬<lb/>
liefert, ein Rezept verschrieben hatte."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1195" next="#ID_1196"> In der Pariser Kommune hatte der Pariser Zweig der Internationale<lb/>
kein Gewicht, und noch viel weniger galt der Londoner Generalrats dort etwas.<lb/>
Als am 18. Mürz der Sieg den Revolutionären zugefallen war, suchten die<lb/>
Pariser Internationalisten allerdings Einfluß auf die Bewegung zu gewinnen,<lb/>
indem sie den Bürger Varlin in das Centralcomitc der Nationalgarde abord¬<lb/>
neten, aber hier herrschten bis zuletzt die Blanquisten. Und so wenig wie auf<lb/>
jenes Comite gewann der Pariser Zweig der Internationale auf die Kommune<lb/>
irgend welchen nennenswerthen Einfluß. &#x201E;Am 3. Mai erst entsandte der Föde¬<lb/>
ralrath jenes Zweigs fünf seiner Mitglieder ins Stadthaus, um dort als</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0403] lächerlicher," bemerkt dazu Becker, „nichts eitler und vergänglicher als solcher Zahlenschwindel." „In England hatte die Internationale fast gar keine Mit¬ glieder, obwohl in ernsthaften, aber leichtgläubigen englischen Zeitschriften die Zahl der dort zu ihr gehörigen Arbeiter auf mehr als hunderttausend ange¬ geben wurde. In Deutschland und Oesterreich zusammen betrug die Mitglieder¬ zahl ungefähr sechshundert. Noch schlimmer stand es in Italien; denn kaum hatte sich hier ein wenig bedeutender Zweig gebildet, als er schon wieder ein¬ ging. Größer als anderwärts war die Mitgliederzahl in Spanien; aber hier entzog man sich ganz und gar der Autorität des Londoner Generalrathes und betrieb eine Partikularistische Bewegung." „Auch in Frankreich, wo die An- hängerschaar der Herren Marx Comp. im Jahre 1870 marktschreierisch auf dreimalhunderttausend angegeben wurde, war die Zahl derselben sehr gering. In Paris betrug sie um die Osterzeit des ebengenannten Jahres höchstens anderthalbtausend, und man fügte sich der Londoner Zentralstelle keineswegs ohne Weiteres." Die Internationalisten in den Ländern romanischer Zunge waren fast ausnahmslos Anhänger Proudhons, während die deutschen sich von Marx und seinem Zentralrathe leiten ließen. Proudhon war anarchischer Föderalist, Marx eifriger Zentralist. Die Franzosen fanden feine Schriften schwerfällig, trocken, unpräzis und verzweifelt arm an Ideen. „Zwar war der Bürger Marx ziemlich französirt, innerlich zersetzt und stets zum Verneinen geneigt bis zum negativen Kommunismus, den er ins Positive umschlagen lassen wollte; ja er verstand die Weltgeschichte nicht mehr wie der Autodidakt Proudhon, aber letzterer, ebenfalls ein zersetzender Geist, hatte den unerme߬ lichen Vortheil, daß das Netzende und Verneinende in seiner Anarchielehre sich bei ihm zum System gestaltete, wogegen der Bürger Marx so rein destruktiv blieb, daß er zuletzt — nach dem Fall der Kommune — Proudhons anarchi¬ stische Kommunen-Föderation adoptiren mußte. Die Internationalisten Frank¬ reichs, Spaniens und Belgiens hielten sich zu Proudhon, weil derselbe seine Anarchie in ein leicht verständliches System gebracht, ihnen eine Formel ge¬ liefert, ein Rezept verschrieben hatte." In der Pariser Kommune hatte der Pariser Zweig der Internationale kein Gewicht, und noch viel weniger galt der Londoner Generalrats dort etwas. Als am 18. Mürz der Sieg den Revolutionären zugefallen war, suchten die Pariser Internationalisten allerdings Einfluß auf die Bewegung zu gewinnen, indem sie den Bürger Varlin in das Centralcomitc der Nationalgarde abord¬ neten, aber hier herrschten bis zuletzt die Blanquisten. Und so wenig wie auf jenes Comite gewann der Pariser Zweig der Internationale auf die Kommune irgend welchen nennenswerthen Einfluß. „Am 3. Mai erst entsandte der Föde¬ ralrath jenes Zweigs fünf seiner Mitglieder ins Stadthaus, um dort als

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/403
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/403>, abgerufen am 23.07.2024.