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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Vertretung der übrigen Kommunen unsere eigene Gesinnung nicht wieder, dann
mag euch der Geier holen, dann bleibt entweder Frankreich in Trümmern
liegen, oder Paris muß es retten, indem es die andern Kommunen vergewaltigt.

Einen tieferen Einblick in das Treiben der Regenten der Kommune als
alle über die letztere erschienenen Geschichtsbücher eröffnet uns die Verhand¬
lung des kommunalen Obergerichts über die Sache des "Generals" Cluseret,
die uns von Becker Seite 296 bis 320 mitgetheilt wird.

Die Kommune hatte mit ihren Generalen kein Glück. Der erste Ober¬
general, Bürger Lullier, eigentlich Seeoffizier, wurde wiederholt verhaftet, seine
Nachfolger Garibaldi und Sohn hatten Lunte gerochen und waren nicht er¬
schienen, trotzdem Menotti Garibaldi am 16. April in die Kommune gewählt
worden war. Die Generale Duval und Flourens kamen bei der gegen Ver¬
sailles unternommenen Expedition um. Der General Bergeret wurde abgesetzt
und wegen Auflehnung gegen Cluseret eingesperrt. Der letztere wurde nach
kurzem Fungiren ebenfalls verhaftet und erst nach Verlauf von fast vier Wochen
verhört u. f. w. Cluseret war Mitglied der Kommune und wurde in Folge
dessen von ihr als Obergericht, als Pairskammer in Untersuchung gezogen und
gerichtet -- die Prediger der Gleichheit dem gemeinen Recht entrückt und pri-
vilegirt, gewiß eine der merkwürdigsten Erscheinungen der Tollheit, die damals
Paris beherrschte. Sodann aber hatte in dieser Zeit der Rechtsbegriff dem
Polizeibegriff Platz machen müssen. Nach jenem gilt jedermann bis zum Be¬
weise seiner Schuld für unschuldig, nach diesem ist jeder schuldig, bis seine
Unschuld dargethan ist. Ein solcher Zustand existirte unter der Herrschaft ge¬
rade der Männer, die sonst immer die Allgerechtigkeit angerufen hatten. Alles,
das Recht, die Finanzen, der Kultus, die Erziehung, das Militär, war unter
Polizeiherrschaft gestellt. Die ganze Nationalgarde war Polizeigarde. Kein
Einzelner war mehr sicher "von wegen der allgemeinen Sicherheit" der Kom¬
munarden; nur die Führer waren davon ausgenommen. Jedes Mitglied des
Kommunerathes war sakrosankt', so lange es nicht als "Verräther" eingesperrt
wurde, und dann unterlag es immerhin nur dem Urtheile seiner Kollegen, die
andrerseits freilich in permanent wüthigen Zustande waren.

Vergegenwärtigen wir uns nun mit Becker den Fall Cluseret etwas näher.
Die erste Exekutivkommission ist durch eine zweite 'beseitigt und diese wieder
durch einen ersten Wohlfahrtsausschuß verdrängt worden, der seinerseits einem
zweiten hat Platz machen müssen. Alles das ist in ungefähr sechs Wochen
geschehen, so daß auf eine dieser Regierungen etwa zehn Tage Regierungszeit
kommen. Auch die Oberanführer der Truppen fallen wie Hen vor der Sense.
Weil Bergeret aus bloßer Vorsicht verhaftet worden ist, muß auch Cluseret
nur deshalb verhaftet werden, und weil jener seine Freiheit wieder erlangt hat,


Vertretung der übrigen Kommunen unsere eigene Gesinnung nicht wieder, dann
mag euch der Geier holen, dann bleibt entweder Frankreich in Trümmern
liegen, oder Paris muß es retten, indem es die andern Kommunen vergewaltigt.

Einen tieferen Einblick in das Treiben der Regenten der Kommune als
alle über die letztere erschienenen Geschichtsbücher eröffnet uns die Verhand¬
lung des kommunalen Obergerichts über die Sache des „Generals" Cluseret,
die uns von Becker Seite 296 bis 320 mitgetheilt wird.

Die Kommune hatte mit ihren Generalen kein Glück. Der erste Ober¬
general, Bürger Lullier, eigentlich Seeoffizier, wurde wiederholt verhaftet, seine
Nachfolger Garibaldi und Sohn hatten Lunte gerochen und waren nicht er¬
schienen, trotzdem Menotti Garibaldi am 16. April in die Kommune gewählt
worden war. Die Generale Duval und Flourens kamen bei der gegen Ver¬
sailles unternommenen Expedition um. Der General Bergeret wurde abgesetzt
und wegen Auflehnung gegen Cluseret eingesperrt. Der letztere wurde nach
kurzem Fungiren ebenfalls verhaftet und erst nach Verlauf von fast vier Wochen
verhört u. f. w. Cluseret war Mitglied der Kommune und wurde in Folge
dessen von ihr als Obergericht, als Pairskammer in Untersuchung gezogen und
gerichtet — die Prediger der Gleichheit dem gemeinen Recht entrückt und pri-
vilegirt, gewiß eine der merkwürdigsten Erscheinungen der Tollheit, die damals
Paris beherrschte. Sodann aber hatte in dieser Zeit der Rechtsbegriff dem
Polizeibegriff Platz machen müssen. Nach jenem gilt jedermann bis zum Be¬
weise seiner Schuld für unschuldig, nach diesem ist jeder schuldig, bis seine
Unschuld dargethan ist. Ein solcher Zustand existirte unter der Herrschaft ge¬
rade der Männer, die sonst immer die Allgerechtigkeit angerufen hatten. Alles,
das Recht, die Finanzen, der Kultus, die Erziehung, das Militär, war unter
Polizeiherrschaft gestellt. Die ganze Nationalgarde war Polizeigarde. Kein
Einzelner war mehr sicher „von wegen der allgemeinen Sicherheit" der Kom¬
munarden; nur die Führer waren davon ausgenommen. Jedes Mitglied des
Kommunerathes war sakrosankt', so lange es nicht als „Verräther" eingesperrt
wurde, und dann unterlag es immerhin nur dem Urtheile seiner Kollegen, die
andrerseits freilich in permanent wüthigen Zustande waren.

Vergegenwärtigen wir uns nun mit Becker den Fall Cluseret etwas näher.
Die erste Exekutivkommission ist durch eine zweite 'beseitigt und diese wieder
durch einen ersten Wohlfahrtsausschuß verdrängt worden, der seinerseits einem
zweiten hat Platz machen müssen. Alles das ist in ungefähr sechs Wochen
geschehen, so daß auf eine dieser Regierungen etwa zehn Tage Regierungszeit
kommen. Auch die Oberanführer der Truppen fallen wie Hen vor der Sense.
Weil Bergeret aus bloßer Vorsicht verhaftet worden ist, muß auch Cluseret
nur deshalb verhaftet werden, und weil jener seine Freiheit wieder erlangt hat,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/396>, abgerufen am 23.07.2024.