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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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verhalf. Diese Kinder der großen Masse inspirirter sich fortwährend in der
Masse. So kommt es denn, daß, wenngleich man in ihren Dekreten und Be¬
schlüssen sich widersprechende Ansichten findet, die Erklärung an das französische
Volk ganz durch die föderative, sozialistische Idee beherrscht wird. Man hat
diesem Dokumente Mangel an Präzision vorgeworfen, und das mag begründet
sein. Aber die beiden Strömungen Jakobinismus und Sozialismus, welche
die Kommune und ebenso die Arbeiterschaft auseinander hielten, zwangen zum
Aufsuchen eines Vermittelungsgebietes, und dieses mußte der Klarheit der in
diesem Aktenstücke ausgedrückten Ideen schaden."

Ins Verständlichere übersetzt, heißt das Folgendes. Die Bürger Prole¬
tarier, die im Rathe der Kommune saßen und sich als Kinder des Pöbels von
Paris fortwährend von diesem inspiriren ließen, zerfielen in Jakobiner und
Sozia iisdem. Jene, welche die Mehrheit bildeten und meist aus Jüngern
des halbverriickten Blanqui bestanden, waren Zentralisten, welche die Dik¬
tatur und mit ihr die Schreckensherrschaft wollten. Die Sozialisten dagegen
waren Föderalisten, die auf Proudhon fußten, ihn in mancher Hinsicht
noch überboten und mit ihrem Föderalismus die allgemeine Anarchie herbeizu¬
führen strebten. Die Jakobiner huldigten vorzüglich dem Grundsatze revolu¬
tionärer Brüderlichkeit und Solidarität, welcher vorschreibt: Verhaftet und
erwürgt euch unter einander. Die Sozialisten dagegen betonten nur die Frei¬
heit und Gleichheit, indem sie sagten: Paris, die größte Kommune, hat nicht
mehr Macht als die kleinste. Wir wollen keine Obrigkeit mehr. Alle einzelnen
Menschen müssen sich föderiren, und jeder Bürger Proletarier bildet für sich
einen freien Staat, eine gleiche Kommune und eine soziale Obrigkeit. Die
Jakobiner hätten als die Mehrheit das Programm ganz jakobinisch machen
können, allein aus Scheu vor offnem Bekenntniß der Schreckensherrschaft und
eingedenk der revolutionären Brüderlichkeit und Solidarität verbargen sie die
Diktatur mit dem Tigerzahn, stellten sich auf den Boden der Versöhnlichkeit und
ließen ihren süßlich sanften sozialistischen Gevattern, da dieselben alle Ober¬
gewalt verschmähten, leidlich freien Spielraum. Insofern war das "Testament"
eine Heuchelei von Seiten der jakobinischen Mehrheit. Nur an wenigen Stellen
läßt der Jakobinismus die Kralle blicken. Es heißt da, wenn man zwischen
den Zeilen ließt: Paris will nicht nur in seinem Innern, unbekümmert um
das übrige Frankreich, schalten und walten können, wie ihm beliebt, sondern
es bezweckt auch die völlige Umgestaltung Frankreichs. Die Republik ist ihm
die einzige annehmbare Regierungsform, und wenn die übrigen Kommunen
des Landes die Monarchie wollen sollten, so würde für Paris kein Frankreich
mehr existiren. Das heißt mit andern Worten: Wollt ihr nicht, wie wir, die
gegenwärtigen Vertreter des Willens von Paris, wollen, finden wir in der


verhalf. Diese Kinder der großen Masse inspirirter sich fortwährend in der
Masse. So kommt es denn, daß, wenngleich man in ihren Dekreten und Be¬
schlüssen sich widersprechende Ansichten findet, die Erklärung an das französische
Volk ganz durch die föderative, sozialistische Idee beherrscht wird. Man hat
diesem Dokumente Mangel an Präzision vorgeworfen, und das mag begründet
sein. Aber die beiden Strömungen Jakobinismus und Sozialismus, welche
die Kommune und ebenso die Arbeiterschaft auseinander hielten, zwangen zum
Aufsuchen eines Vermittelungsgebietes, und dieses mußte der Klarheit der in
diesem Aktenstücke ausgedrückten Ideen schaden."

Ins Verständlichere übersetzt, heißt das Folgendes. Die Bürger Prole¬
tarier, die im Rathe der Kommune saßen und sich als Kinder des Pöbels von
Paris fortwährend von diesem inspiriren ließen, zerfielen in Jakobiner und
Sozia iisdem. Jene, welche die Mehrheit bildeten und meist aus Jüngern
des halbverriickten Blanqui bestanden, waren Zentralisten, welche die Dik¬
tatur und mit ihr die Schreckensherrschaft wollten. Die Sozialisten dagegen
waren Föderalisten, die auf Proudhon fußten, ihn in mancher Hinsicht
noch überboten und mit ihrem Föderalismus die allgemeine Anarchie herbeizu¬
führen strebten. Die Jakobiner huldigten vorzüglich dem Grundsatze revolu¬
tionärer Brüderlichkeit und Solidarität, welcher vorschreibt: Verhaftet und
erwürgt euch unter einander. Die Sozialisten dagegen betonten nur die Frei¬
heit und Gleichheit, indem sie sagten: Paris, die größte Kommune, hat nicht
mehr Macht als die kleinste. Wir wollen keine Obrigkeit mehr. Alle einzelnen
Menschen müssen sich föderiren, und jeder Bürger Proletarier bildet für sich
einen freien Staat, eine gleiche Kommune und eine soziale Obrigkeit. Die
Jakobiner hätten als die Mehrheit das Programm ganz jakobinisch machen
können, allein aus Scheu vor offnem Bekenntniß der Schreckensherrschaft und
eingedenk der revolutionären Brüderlichkeit und Solidarität verbargen sie die
Diktatur mit dem Tigerzahn, stellten sich auf den Boden der Versöhnlichkeit und
ließen ihren süßlich sanften sozialistischen Gevattern, da dieselben alle Ober¬
gewalt verschmähten, leidlich freien Spielraum. Insofern war das „Testament"
eine Heuchelei von Seiten der jakobinischen Mehrheit. Nur an wenigen Stellen
läßt der Jakobinismus die Kralle blicken. Es heißt da, wenn man zwischen
den Zeilen ließt: Paris will nicht nur in seinem Innern, unbekümmert um
das übrige Frankreich, schalten und walten können, wie ihm beliebt, sondern
es bezweckt auch die völlige Umgestaltung Frankreichs. Die Republik ist ihm
die einzige annehmbare Regierungsform, und wenn die übrigen Kommunen
des Landes die Monarchie wollen sollten, so würde für Paris kein Frankreich
mehr existiren. Das heißt mit andern Worten: Wollt ihr nicht, wie wir, die
gegenwärtigen Vertreter des Willens von Paris, wollen, finden wir in der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/395>, abgerufen am 23.07.2024.