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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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und unfruchtbare Aktion des Romanheldenthums der Gefühle um so leichter
möglich. Das Kind eines Volkes von alter Heredität trägt, prädestinirt durch
die Vernunft der vergangenen Generationen, die Schablone für die vernunft¬
gemäße Ausführung seiner tagtäglichen Aufgaben gewissermaßen in sich, der
Kreis derjenigen Aufgaben, bei welchen es autonom zu entscheiden hätte, ist
dadurch relativ verkleinert. Ein Glied eines Volkes ohne alte Heredität, ein
Russe z. B., muß die hereditäre Vernunft durch seine eigene Autonomie größten-
theils ersetzen, um das Gleiche zu leisten, und hat für seine Gefühlsimpulse
ein unbeschränkteres, größeres, weniger angebautes, also auch gefährlicheres Feld.

Nicht der Sensualismus an und für sich, nur das Ueberhandnehmen des
Sensualismus ist ein Fortschreiten zum Romanheldenthum, ist das Gefahr¬
drohende für die Sittlichkeit und die ganze Kultur. Die Geschichte bietet eine
Menge Phasen, welche in hervorragender Weise ein solches Ueberhandnehmen
illustriren. Fast überall, wo gewisse große Zeitmeinungen sich festsetzen und
einen epidemischen Charakter annehmen, wird man finden, daß die Ursache
dieser Meinungsepidemien keine andere ist als das Auftreten großer, unbe¬
herrschter, nur halb begriffener, stets aber mit unwiderstehlicher Gewalt daher-
rauschender Gefühlsemotionen im Volke. Man braucht nur auf die Kreuzzüge,
als auf eine krankhafte Bewegung, deren sich zwei Jahrhunderte nicht erwehren
konnten, hinzuweisen, auf die Donquixotiaden des mittelalterlichen Ritterthums,
auf die krankhaft-epidemische Erscheinung der Hexenprozesse, in deren Akten wir
mit Wehmuth gewahren, daß auch die edelsten und erlauchtesten Männer jener
Zeit sich von der allgemeinen Strömung ergriffen zeigen. Weiter zutreffende
Beispiele sind der blinde, wahnwitzige Eifer beider Parteien im dreißigjährigen
Kriege, in welchem schließlich Keiner mehr recht wußte, weshalb er eigentlich
Krieg führe, es sei denn des Kriegführens wegen, der Jammer und die Zer¬
rissenheit des heiligen römischen Reichs und seiner Regenten :c. Wer sich die
Mühe geben will, heute nochmals die Akten des Frankfurter Parlaments und
die politischen Reden von 1848 zu lesen, der wird es nicht für möglich halten,
daß solche unklare, nebulose, utopische Vorschläge zur Beglückung des ganzen
Menschengeschlechts, ausgegangen von den tüchtigsten Männern, ernsthaft ge¬
meint gewesen sind. Wer die sozialdemokratischen Vorgänge unserer Tage mit
dem Auge des Menschenfreundes, aber auch mit dem des wahrheitsliebenden
Kritikers betrachtet, der wird erkennen, daß auch diese Lehre sich auf die beiden
Grundpfeiler des echten Romanheldenthums stützt: Autoritätslosigkeit und nebu¬
lose, propagandistische Schwärmerei.

Schon das Alterthum hatte seine Romanhelden. Treffender läßt sich
wenigstens Alkibiades nicht bezeichnen. Und was war Karl XII. von Schweden
anders als ein Romanheld? Selbst Joseph II. war es. Ein charakteristischer


und unfruchtbare Aktion des Romanheldenthums der Gefühle um so leichter
möglich. Das Kind eines Volkes von alter Heredität trägt, prädestinirt durch
die Vernunft der vergangenen Generationen, die Schablone für die vernunft¬
gemäße Ausführung seiner tagtäglichen Aufgaben gewissermaßen in sich, der
Kreis derjenigen Aufgaben, bei welchen es autonom zu entscheiden hätte, ist
dadurch relativ verkleinert. Ein Glied eines Volkes ohne alte Heredität, ein
Russe z. B., muß die hereditäre Vernunft durch seine eigene Autonomie größten-
theils ersetzen, um das Gleiche zu leisten, und hat für seine Gefühlsimpulse
ein unbeschränkteres, größeres, weniger angebautes, also auch gefährlicheres Feld.

Nicht der Sensualismus an und für sich, nur das Ueberhandnehmen des
Sensualismus ist ein Fortschreiten zum Romanheldenthum, ist das Gefahr¬
drohende für die Sittlichkeit und die ganze Kultur. Die Geschichte bietet eine
Menge Phasen, welche in hervorragender Weise ein solches Ueberhandnehmen
illustriren. Fast überall, wo gewisse große Zeitmeinungen sich festsetzen und
einen epidemischen Charakter annehmen, wird man finden, daß die Ursache
dieser Meinungsepidemien keine andere ist als das Auftreten großer, unbe¬
herrschter, nur halb begriffener, stets aber mit unwiderstehlicher Gewalt daher-
rauschender Gefühlsemotionen im Volke. Man braucht nur auf die Kreuzzüge,
als auf eine krankhafte Bewegung, deren sich zwei Jahrhunderte nicht erwehren
konnten, hinzuweisen, auf die Donquixotiaden des mittelalterlichen Ritterthums,
auf die krankhaft-epidemische Erscheinung der Hexenprozesse, in deren Akten wir
mit Wehmuth gewahren, daß auch die edelsten und erlauchtesten Männer jener
Zeit sich von der allgemeinen Strömung ergriffen zeigen. Weiter zutreffende
Beispiele sind der blinde, wahnwitzige Eifer beider Parteien im dreißigjährigen
Kriege, in welchem schließlich Keiner mehr recht wußte, weshalb er eigentlich
Krieg führe, es sei denn des Kriegführens wegen, der Jammer und die Zer¬
rissenheit des heiligen römischen Reichs und seiner Regenten :c. Wer sich die
Mühe geben will, heute nochmals die Akten des Frankfurter Parlaments und
die politischen Reden von 1848 zu lesen, der wird es nicht für möglich halten,
daß solche unklare, nebulose, utopische Vorschläge zur Beglückung des ganzen
Menschengeschlechts, ausgegangen von den tüchtigsten Männern, ernsthaft ge¬
meint gewesen sind. Wer die sozialdemokratischen Vorgänge unserer Tage mit
dem Auge des Menschenfreundes, aber auch mit dem des wahrheitsliebenden
Kritikers betrachtet, der wird erkennen, daß auch diese Lehre sich auf die beiden
Grundpfeiler des echten Romanheldenthums stützt: Autoritätslosigkeit und nebu¬
lose, propagandistische Schwärmerei.

Schon das Alterthum hatte seine Romanhelden. Treffender läßt sich
wenigstens Alkibiades nicht bezeichnen. Und was war Karl XII. von Schweden
anders als ein Romanheld? Selbst Joseph II. war es. Ein charakteristischer


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[0320] und unfruchtbare Aktion des Romanheldenthums der Gefühle um so leichter möglich. Das Kind eines Volkes von alter Heredität trägt, prädestinirt durch die Vernunft der vergangenen Generationen, die Schablone für die vernunft¬ gemäße Ausführung seiner tagtäglichen Aufgaben gewissermaßen in sich, der Kreis derjenigen Aufgaben, bei welchen es autonom zu entscheiden hätte, ist dadurch relativ verkleinert. Ein Glied eines Volkes ohne alte Heredität, ein Russe z. B., muß die hereditäre Vernunft durch seine eigene Autonomie größten- theils ersetzen, um das Gleiche zu leisten, und hat für seine Gefühlsimpulse ein unbeschränkteres, größeres, weniger angebautes, also auch gefährlicheres Feld. Nicht der Sensualismus an und für sich, nur das Ueberhandnehmen des Sensualismus ist ein Fortschreiten zum Romanheldenthum, ist das Gefahr¬ drohende für die Sittlichkeit und die ganze Kultur. Die Geschichte bietet eine Menge Phasen, welche in hervorragender Weise ein solches Ueberhandnehmen illustriren. Fast überall, wo gewisse große Zeitmeinungen sich festsetzen und einen epidemischen Charakter annehmen, wird man finden, daß die Ursache dieser Meinungsepidemien keine andere ist als das Auftreten großer, unbe¬ herrschter, nur halb begriffener, stets aber mit unwiderstehlicher Gewalt daher- rauschender Gefühlsemotionen im Volke. Man braucht nur auf die Kreuzzüge, als auf eine krankhafte Bewegung, deren sich zwei Jahrhunderte nicht erwehren konnten, hinzuweisen, auf die Donquixotiaden des mittelalterlichen Ritterthums, auf die krankhaft-epidemische Erscheinung der Hexenprozesse, in deren Akten wir mit Wehmuth gewahren, daß auch die edelsten und erlauchtesten Männer jener Zeit sich von der allgemeinen Strömung ergriffen zeigen. Weiter zutreffende Beispiele sind der blinde, wahnwitzige Eifer beider Parteien im dreißigjährigen Kriege, in welchem schließlich Keiner mehr recht wußte, weshalb er eigentlich Krieg führe, es sei denn des Kriegführens wegen, der Jammer und die Zer¬ rissenheit des heiligen römischen Reichs und seiner Regenten :c. Wer sich die Mühe geben will, heute nochmals die Akten des Frankfurter Parlaments und die politischen Reden von 1848 zu lesen, der wird es nicht für möglich halten, daß solche unklare, nebulose, utopische Vorschläge zur Beglückung des ganzen Menschengeschlechts, ausgegangen von den tüchtigsten Männern, ernsthaft ge¬ meint gewesen sind. Wer die sozialdemokratischen Vorgänge unserer Tage mit dem Auge des Menschenfreundes, aber auch mit dem des wahrheitsliebenden Kritikers betrachtet, der wird erkennen, daß auch diese Lehre sich auf die beiden Grundpfeiler des echten Romanheldenthums stützt: Autoritätslosigkeit und nebu¬ lose, propagandistische Schwärmerei. Schon das Alterthum hatte seine Romanhelden. Treffender läßt sich wenigstens Alkibiades nicht bezeichnen. Und was war Karl XII. von Schweden anders als ein Romanheld? Selbst Joseph II. war es. Ein charakteristischer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/320>, abgerufen am 26.08.2024.