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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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daß die Entwickelung dieser Geistesströmung sich auf alte, latent gewordene
Charakterfehler im deutschen Gemüthsleben stützt, welche ehemals in verheerend¬
ster Weise den Volksgeist demoralisirt hatten. Nach Aussage der Wälschen
waren die Deutschen im dreißigjährigen Kriege Säufer, Spieler und Prahler.
Maßloser, unverständiger Freiheits- und Selbständigkeitsdrang führte zur Ver¬
einzelung, zur politischen Zerrissenheit, zur Unklarheit, Unwahrhaftigkeit, Un¬
redlichkeit, zu Neid und Verkleinerungssucht untereinander. Das Undiszipli-
nirte in Worten und Thaten, in Gesinnungen und Leidenschaften ist das echte
Wappenzeichen aller Romanhelden.

Wollte man einwenden, daß das große Kulturvolk der Romanen, obgleich
es nicht im Stande zu sein scheine, für die Zivilisation der Welt eine neue
ethische Epoche anzubahnen, dennoch nicht in den Fehlern des Romanhelden-
thums verseichtet sei, so ist, abgesehen davon, daß dies nur halbwahr wäre,
Folgendes zu berücksichtigen. Die Romanen haben eine ungleich längere Zeit
abgeschlossener Kulturarbeit ihres Volkes durchlaufen als die Germanen. Zu
der Zeit, da unsre Väter in den Urwäldern noch in Felle gekleidet ein Jäger-
und Räuberleben führten, beugte sich der Erdkreis schon vor dem Herrscher¬
worte Roms in Staat, Kirche und Kunst. Die Erbschaft der Jahrtausende
bringt den Romanen intelligenter, im Charakter bestimmter, wenn auch scha¬
blonenhafter hervor als den germanischen Weltbürger. Der Deutsche hat weniger
Heredität, aber mehr eigene jugendliche Kraft als der Romane; dieser lebt und
lernt mehr aus sich heraus, jener in sich hinein. Sehen wir unser gewöhn¬
liches Volk an; es hat wenig Verstand, aber es will sich gern belehren lassen;
der Romane ist viel intelligenter, aber er weiß alles besser und lernt wenig.
Wenn der Romane sich seinen hereditären Impulsen überläßt, sich gehen läßt,
fo reproduzirt er unbewußt die menschlichen Formen wieder, welche eine viel¬
tausendjährige Kultur durch Verstand und Schönheitssinn allmählich zu festen
Lebensnormen ausgebildet hat. Daher das Dutzendmenschenthum bei den
Romanen, daher die Originale und die sogenannten Genies bei uns, daher
aber auch in Zeiten der Autoritätslosigkeit das Wiedererscheinen der schlimmsten
Sünden unserer Voreltern in anderer Form.

Alle jugendlichen Völker, die keine große und alte Heredität haben, lassen
sich durch ihr Gefühlsleben leiten. Die verstandesmäßige Ueberlegung ist ein
Werk der Aneignung vieler Erfahrung von Generationen. Ein Volk, das beide
Seiten gleichmäßig vereinigte, die Aktion der Selbstbildung (Autonomie) und
die Ausbildung der passiv empfangenen besten Errungenschaften (Heredität),
wäre ein Jdealvolk. Die Deutschen haben mehr autonome Aktion als die
übrigen Kulturvölker, aber wegen der geringeren Heredität germanischen Bluts
ist ein periodisches Zurückfalle" in die Passivität, oder auch in die unwegsame


daß die Entwickelung dieser Geistesströmung sich auf alte, latent gewordene
Charakterfehler im deutschen Gemüthsleben stützt, welche ehemals in verheerend¬
ster Weise den Volksgeist demoralisirt hatten. Nach Aussage der Wälschen
waren die Deutschen im dreißigjährigen Kriege Säufer, Spieler und Prahler.
Maßloser, unverständiger Freiheits- und Selbständigkeitsdrang führte zur Ver¬
einzelung, zur politischen Zerrissenheit, zur Unklarheit, Unwahrhaftigkeit, Un¬
redlichkeit, zu Neid und Verkleinerungssucht untereinander. Das Undiszipli-
nirte in Worten und Thaten, in Gesinnungen und Leidenschaften ist das echte
Wappenzeichen aller Romanhelden.

Wollte man einwenden, daß das große Kulturvolk der Romanen, obgleich
es nicht im Stande zu sein scheine, für die Zivilisation der Welt eine neue
ethische Epoche anzubahnen, dennoch nicht in den Fehlern des Romanhelden-
thums verseichtet sei, so ist, abgesehen davon, daß dies nur halbwahr wäre,
Folgendes zu berücksichtigen. Die Romanen haben eine ungleich längere Zeit
abgeschlossener Kulturarbeit ihres Volkes durchlaufen als die Germanen. Zu
der Zeit, da unsre Väter in den Urwäldern noch in Felle gekleidet ein Jäger-
und Räuberleben führten, beugte sich der Erdkreis schon vor dem Herrscher¬
worte Roms in Staat, Kirche und Kunst. Die Erbschaft der Jahrtausende
bringt den Romanen intelligenter, im Charakter bestimmter, wenn auch scha¬
blonenhafter hervor als den germanischen Weltbürger. Der Deutsche hat weniger
Heredität, aber mehr eigene jugendliche Kraft als der Romane; dieser lebt und
lernt mehr aus sich heraus, jener in sich hinein. Sehen wir unser gewöhn¬
liches Volk an; es hat wenig Verstand, aber es will sich gern belehren lassen;
der Romane ist viel intelligenter, aber er weiß alles besser und lernt wenig.
Wenn der Romane sich seinen hereditären Impulsen überläßt, sich gehen läßt,
fo reproduzirt er unbewußt die menschlichen Formen wieder, welche eine viel¬
tausendjährige Kultur durch Verstand und Schönheitssinn allmählich zu festen
Lebensnormen ausgebildet hat. Daher das Dutzendmenschenthum bei den
Romanen, daher die Originale und die sogenannten Genies bei uns, daher
aber auch in Zeiten der Autoritätslosigkeit das Wiedererscheinen der schlimmsten
Sünden unserer Voreltern in anderer Form.

Alle jugendlichen Völker, die keine große und alte Heredität haben, lassen
sich durch ihr Gefühlsleben leiten. Die verstandesmäßige Ueberlegung ist ein
Werk der Aneignung vieler Erfahrung von Generationen. Ein Volk, das beide
Seiten gleichmäßig vereinigte, die Aktion der Selbstbildung (Autonomie) und
die Ausbildung der passiv empfangenen besten Errungenschaften (Heredität),
wäre ein Jdealvolk. Die Deutschen haben mehr autonome Aktion als die
übrigen Kulturvölker, aber wegen der geringeren Heredität germanischen Bluts
ist ein periodisches Zurückfalle» in die Passivität, oder auch in die unwegsame


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[0319] daß die Entwickelung dieser Geistesströmung sich auf alte, latent gewordene Charakterfehler im deutschen Gemüthsleben stützt, welche ehemals in verheerend¬ ster Weise den Volksgeist demoralisirt hatten. Nach Aussage der Wälschen waren die Deutschen im dreißigjährigen Kriege Säufer, Spieler und Prahler. Maßloser, unverständiger Freiheits- und Selbständigkeitsdrang führte zur Ver¬ einzelung, zur politischen Zerrissenheit, zur Unklarheit, Unwahrhaftigkeit, Un¬ redlichkeit, zu Neid und Verkleinerungssucht untereinander. Das Undiszipli- nirte in Worten und Thaten, in Gesinnungen und Leidenschaften ist das echte Wappenzeichen aller Romanhelden. Wollte man einwenden, daß das große Kulturvolk der Romanen, obgleich es nicht im Stande zu sein scheine, für die Zivilisation der Welt eine neue ethische Epoche anzubahnen, dennoch nicht in den Fehlern des Romanhelden- thums verseichtet sei, so ist, abgesehen davon, daß dies nur halbwahr wäre, Folgendes zu berücksichtigen. Die Romanen haben eine ungleich längere Zeit abgeschlossener Kulturarbeit ihres Volkes durchlaufen als die Germanen. Zu der Zeit, da unsre Väter in den Urwäldern noch in Felle gekleidet ein Jäger- und Räuberleben führten, beugte sich der Erdkreis schon vor dem Herrscher¬ worte Roms in Staat, Kirche und Kunst. Die Erbschaft der Jahrtausende bringt den Romanen intelligenter, im Charakter bestimmter, wenn auch scha¬ blonenhafter hervor als den germanischen Weltbürger. Der Deutsche hat weniger Heredität, aber mehr eigene jugendliche Kraft als der Romane; dieser lebt und lernt mehr aus sich heraus, jener in sich hinein. Sehen wir unser gewöhn¬ liches Volk an; es hat wenig Verstand, aber es will sich gern belehren lassen; der Romane ist viel intelligenter, aber er weiß alles besser und lernt wenig. Wenn der Romane sich seinen hereditären Impulsen überläßt, sich gehen läßt, fo reproduzirt er unbewußt die menschlichen Formen wieder, welche eine viel¬ tausendjährige Kultur durch Verstand und Schönheitssinn allmählich zu festen Lebensnormen ausgebildet hat. Daher das Dutzendmenschenthum bei den Romanen, daher die Originale und die sogenannten Genies bei uns, daher aber auch in Zeiten der Autoritätslosigkeit das Wiedererscheinen der schlimmsten Sünden unserer Voreltern in anderer Form. Alle jugendlichen Völker, die keine große und alte Heredität haben, lassen sich durch ihr Gefühlsleben leiten. Die verstandesmäßige Ueberlegung ist ein Werk der Aneignung vieler Erfahrung von Generationen. Ein Volk, das beide Seiten gleichmäßig vereinigte, die Aktion der Selbstbildung (Autonomie) und die Ausbildung der passiv empfangenen besten Errungenschaften (Heredität), wäre ein Jdealvolk. Die Deutschen haben mehr autonome Aktion als die übrigen Kulturvölker, aber wegen der geringeren Heredität germanischen Bluts ist ein periodisches Zurückfalle» in die Passivität, oder auch in die unwegsame

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/319>, abgerufen am 23.07.2024.