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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Sicherheit und öffentliche Ordnung kannte keine Grenzen. Als daher in Preußen
das allgemeine Landrecht die Erbschaft der Karolina antrat und im Geiste der
Aufklärungsperiode das System der Strafmittel neu ordnete, war der Weg
zur Einführung verschiedenartig abgestufter Freiheitsstrafen geebnet. Rücksichten
polizeilicher Zweckmäßigkeit, zumal auf dem Gebiete der Verbrechen wider das
Eigenthum, trieben in dieselbe Bahn. Es entstanden Arbeits- und Zuchthäuser
halb polizeilicher, halb strafrechtlicher Natur. Aber die Verweisung in diese
Anstalten wurde auch jetzt noch nicht als bloße Negation der Freiheit aufge¬
faßt. Die Freiheitsstrafen waren mit ihren Zugaben von Pein und Entbeh¬
rung Körperstrafen, die abschrecken sollten. Weder eine grundsätzliche Unter¬
scheidung der Arten, noch eine ängstliche Abwägung der Dauer der Freiheits¬
entziehung machte den Strafgerichten Sorge, und wie es im Innern der
Gefangenen und der Gefängnisse aussah, beschäftigte weder den Gesetzgeber
noch den Richter. Die Einsperrungsorte sollten mit ihrem Hunger, ihren
Prügeln und ihrer harten Arbeit einfach Scheu vor den Verbrechen einflößen,
die nach dem Gesetze in sie führten.

Da brachen um die Mitte des jetzigen Jahrhunderts in den Gedankenkreis
der deutschen Rechtsanschauungen vom Wesen der Freiheitsstrafen zwei neue
Ideen herein. Von Frankreich her überkam uns eine Reform der gesammten
Strafgesetzgebung. Mit den Grundsätzen der Oeffentlichkeit und Mündlichkeit
des Strafverfahrens und den Schwurgerichten erhielten wir die glatten Formen
des französischen Va>as, die Dreitheilung der Reate in Verbrechen, Vergehen
und Uebertretungen und die dadurch bedingte Dreitheilung der Freiheitsstrafen
in Zuchthaus, Gefängniß und Haft, eine den rechnenden Verstand entzückende
ungeheure Arithmetik von kongruirenden Verbrechensbegriffen und Strafzahlen.
Schnell verlor sich in dem endlosen Gewühl von Unterscheidungen nach
Art und Größe das Bewußtsein von dem menschlichen, dem sittlich vernünftigen
Inhalte der Strafen. Jeder konnte in den Begriff der Strafe hineinlegen,
was der eignen Stimmung entsprach, und da die Stimmung der Menschen sich
immer ausschließlicher jener modernen, mehr in der Weichlichkeit der Nerven
als in der Seele wurzelnden Humanität hingab, welche uns Religion, Glauben
und allen philosophischen und sittlichen Idealismus ersetzen sollte, versuchte man
auch die Strafen einzureihen in das stimmungsvolle Bild einer schönen, fried¬
fertigen, den Zielen irdischer Glückseligkeit, Allmacht und Allweisheit rüstig
zustrebenden Menschheit. Und diesem mächtigen Zuge der heutigen Weltan¬
schauung kam die neue philanthropische Lehre entgegen, die um diese Zeit sich
jenseits des Meeres entwickelt hatte. Im nordamerikanischen Quäkerstaate hatte
zu Ende des vorigen Jahrhunderts der Gedanke fruchtbaren Boden gefunden,
die Freiheitsstrafe zu Zwecken religiöser Wiedererweckung zu verwenden. Abge-


Sicherheit und öffentliche Ordnung kannte keine Grenzen. Als daher in Preußen
das allgemeine Landrecht die Erbschaft der Karolina antrat und im Geiste der
Aufklärungsperiode das System der Strafmittel neu ordnete, war der Weg
zur Einführung verschiedenartig abgestufter Freiheitsstrafen geebnet. Rücksichten
polizeilicher Zweckmäßigkeit, zumal auf dem Gebiete der Verbrechen wider das
Eigenthum, trieben in dieselbe Bahn. Es entstanden Arbeits- und Zuchthäuser
halb polizeilicher, halb strafrechtlicher Natur. Aber die Verweisung in diese
Anstalten wurde auch jetzt noch nicht als bloße Negation der Freiheit aufge¬
faßt. Die Freiheitsstrafen waren mit ihren Zugaben von Pein und Entbeh¬
rung Körperstrafen, die abschrecken sollten. Weder eine grundsätzliche Unter¬
scheidung der Arten, noch eine ängstliche Abwägung der Dauer der Freiheits¬
entziehung machte den Strafgerichten Sorge, und wie es im Innern der
Gefangenen und der Gefängnisse aussah, beschäftigte weder den Gesetzgeber
noch den Richter. Die Einsperrungsorte sollten mit ihrem Hunger, ihren
Prügeln und ihrer harten Arbeit einfach Scheu vor den Verbrechen einflößen,
die nach dem Gesetze in sie führten.

Da brachen um die Mitte des jetzigen Jahrhunderts in den Gedankenkreis
der deutschen Rechtsanschauungen vom Wesen der Freiheitsstrafen zwei neue
Ideen herein. Von Frankreich her überkam uns eine Reform der gesammten
Strafgesetzgebung. Mit den Grundsätzen der Oeffentlichkeit und Mündlichkeit
des Strafverfahrens und den Schwurgerichten erhielten wir die glatten Formen
des französischen Va>as, die Dreitheilung der Reate in Verbrechen, Vergehen
und Uebertretungen und die dadurch bedingte Dreitheilung der Freiheitsstrafen
in Zuchthaus, Gefängniß und Haft, eine den rechnenden Verstand entzückende
ungeheure Arithmetik von kongruirenden Verbrechensbegriffen und Strafzahlen.
Schnell verlor sich in dem endlosen Gewühl von Unterscheidungen nach
Art und Größe das Bewußtsein von dem menschlichen, dem sittlich vernünftigen
Inhalte der Strafen. Jeder konnte in den Begriff der Strafe hineinlegen,
was der eignen Stimmung entsprach, und da die Stimmung der Menschen sich
immer ausschließlicher jener modernen, mehr in der Weichlichkeit der Nerven
als in der Seele wurzelnden Humanität hingab, welche uns Religion, Glauben
und allen philosophischen und sittlichen Idealismus ersetzen sollte, versuchte man
auch die Strafen einzureihen in das stimmungsvolle Bild einer schönen, fried¬
fertigen, den Zielen irdischer Glückseligkeit, Allmacht und Allweisheit rüstig
zustrebenden Menschheit. Und diesem mächtigen Zuge der heutigen Weltan¬
schauung kam die neue philanthropische Lehre entgegen, die um diese Zeit sich
jenseits des Meeres entwickelt hatte. Im nordamerikanischen Quäkerstaate hatte
zu Ende des vorigen Jahrhunderts der Gedanke fruchtbaren Boden gefunden,
die Freiheitsstrafe zu Zwecken religiöser Wiedererweckung zu verwenden. Abge-


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[0243] Sicherheit und öffentliche Ordnung kannte keine Grenzen. Als daher in Preußen das allgemeine Landrecht die Erbschaft der Karolina antrat und im Geiste der Aufklärungsperiode das System der Strafmittel neu ordnete, war der Weg zur Einführung verschiedenartig abgestufter Freiheitsstrafen geebnet. Rücksichten polizeilicher Zweckmäßigkeit, zumal auf dem Gebiete der Verbrechen wider das Eigenthum, trieben in dieselbe Bahn. Es entstanden Arbeits- und Zuchthäuser halb polizeilicher, halb strafrechtlicher Natur. Aber die Verweisung in diese Anstalten wurde auch jetzt noch nicht als bloße Negation der Freiheit aufge¬ faßt. Die Freiheitsstrafen waren mit ihren Zugaben von Pein und Entbeh¬ rung Körperstrafen, die abschrecken sollten. Weder eine grundsätzliche Unter¬ scheidung der Arten, noch eine ängstliche Abwägung der Dauer der Freiheits¬ entziehung machte den Strafgerichten Sorge, und wie es im Innern der Gefangenen und der Gefängnisse aussah, beschäftigte weder den Gesetzgeber noch den Richter. Die Einsperrungsorte sollten mit ihrem Hunger, ihren Prügeln und ihrer harten Arbeit einfach Scheu vor den Verbrechen einflößen, die nach dem Gesetze in sie führten. Da brachen um die Mitte des jetzigen Jahrhunderts in den Gedankenkreis der deutschen Rechtsanschauungen vom Wesen der Freiheitsstrafen zwei neue Ideen herein. Von Frankreich her überkam uns eine Reform der gesammten Strafgesetzgebung. Mit den Grundsätzen der Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Strafverfahrens und den Schwurgerichten erhielten wir die glatten Formen des französischen Va>as, die Dreitheilung der Reate in Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen und die dadurch bedingte Dreitheilung der Freiheitsstrafen in Zuchthaus, Gefängniß und Haft, eine den rechnenden Verstand entzückende ungeheure Arithmetik von kongruirenden Verbrechensbegriffen und Strafzahlen. Schnell verlor sich in dem endlosen Gewühl von Unterscheidungen nach Art und Größe das Bewußtsein von dem menschlichen, dem sittlich vernünftigen Inhalte der Strafen. Jeder konnte in den Begriff der Strafe hineinlegen, was der eignen Stimmung entsprach, und da die Stimmung der Menschen sich immer ausschließlicher jener modernen, mehr in der Weichlichkeit der Nerven als in der Seele wurzelnden Humanität hingab, welche uns Religion, Glauben und allen philosophischen und sittlichen Idealismus ersetzen sollte, versuchte man auch die Strafen einzureihen in das stimmungsvolle Bild einer schönen, fried¬ fertigen, den Zielen irdischer Glückseligkeit, Allmacht und Allweisheit rüstig zustrebenden Menschheit. Und diesem mächtigen Zuge der heutigen Weltan¬ schauung kam die neue philanthropische Lehre entgegen, die um diese Zeit sich jenseits des Meeres entwickelt hatte. Im nordamerikanischen Quäkerstaate hatte zu Ende des vorigen Jahrhunderts der Gedanke fruchtbaren Boden gefunden, die Freiheitsstrafe zu Zwecken religiöser Wiedererweckung zu verwenden. Abge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/243>, abgerufen am 23.07.2024.