Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Hegen die Freiheitsstrafen.
Ein Beitrag zur Kritik des heutigen Strafsystems.

So nennt sich eine soeben im Verlage von Hirzel in Leipzig erschienene kleine
Schrift von Dr. Otto Mittelstadt, mit deren Inhalt wir durchweg über¬
einstimmen, und die wir den Lesern d. Bl. dringend zur Beachtung empfehlen,
da sie eine brennende Frage der Zeit vom Standpunkte eines Mannes be¬
trachtet, der nach langjähriger Erfahrung prüft und urtheilt und sich dabei
durch Rücksichten auf landläufige Gefühle und Doktrinen in keiner Weise be¬
irren läßt.

Unter Juristen wie unter Laien wird heutzutage gemeinhin als selbstver¬
ständlich angenommen, daß Gefängnißstrafen zu allen Zeiten und bei allen
Völkern existirt haben. Das ist aber, wie der Verfasser unsrer Schrift aus¬
führlich nachweist, keineswegs der Fall. Zwar hat es immer Verließe und
Kerker gegeben, aber nur als Formen des Kampfes und Werkzeuge des Krieges,
die dazu dienten, Feinde des Landes, des Volkes, des gemeinen Friedens zu
verwahren, um sie demnächst dem Tode, der Sklaverei, der Verbannung zu
überantworten, um sie in der Haft zu Grunde gehen zu lassen, oder um sie
gelegentlich mit oder ohne Lösegeld der Freiheit wiederzugeben. Niemals in
der alten Zeit wurde dagegen ein Bedürfniß nach jenen Strafmitteln empfunden,
die wir unter der Kategorie "Freiheitsentziehung" zusammenzufassen gewohnt
sind. Mit andern Worten: als Objekt der Strafe kannten die Völker der
antiken Welt, des Mittelalters und der Neuzeit bis vor etwa 120 Jahren nicht
die natürliche Freiheit, sondern ausschließlich Leib und Leben, Vermögen, Hei¬
mat und Volksgemeinschaft.

Niemand ferner dachte über die Berechtigung der Strafe nach, sie war
eben Strafe, nicht mehr und nicht weniger; mit ihr einen zeitlichen Zweck zu
verbinden, fiel keiner Seele ein, die Gerechtigkeit war Selbstzweck. Erst als
der Kultus der Menschenpersönlichkeit sich anspruchsvoll an den Platz drängte,
den bisher die alten Kulte religiöser Gottesverehrung eingenommen hatten,
änderte sich das allmählich. Fortan stand in den Vorstellungen der Zeit das
Recht des Menschen auf sein Leben höher als alle göttliche und menschliche
Strafgewalt. Die Herrschaft der Strafrechtstheorieen begann, und die Gesetz¬
gebung machte sich ans Werk, die Strafe nach ihren Zwecken zurechtzuschnitzeln.

Es kam die Zeit, wo die Staatsraison die Regierenden beherrschte. Die
landespolizeiliche Fürsorge für Wohl und Wehe der Unterthanen, für Rechts-


Hegen die Freiheitsstrafen.
Ein Beitrag zur Kritik des heutigen Strafsystems.

So nennt sich eine soeben im Verlage von Hirzel in Leipzig erschienene kleine
Schrift von Dr. Otto Mittelstadt, mit deren Inhalt wir durchweg über¬
einstimmen, und die wir den Lesern d. Bl. dringend zur Beachtung empfehlen,
da sie eine brennende Frage der Zeit vom Standpunkte eines Mannes be¬
trachtet, der nach langjähriger Erfahrung prüft und urtheilt und sich dabei
durch Rücksichten auf landläufige Gefühle und Doktrinen in keiner Weise be¬
irren läßt.

Unter Juristen wie unter Laien wird heutzutage gemeinhin als selbstver¬
ständlich angenommen, daß Gefängnißstrafen zu allen Zeiten und bei allen
Völkern existirt haben. Das ist aber, wie der Verfasser unsrer Schrift aus¬
führlich nachweist, keineswegs der Fall. Zwar hat es immer Verließe und
Kerker gegeben, aber nur als Formen des Kampfes und Werkzeuge des Krieges,
die dazu dienten, Feinde des Landes, des Volkes, des gemeinen Friedens zu
verwahren, um sie demnächst dem Tode, der Sklaverei, der Verbannung zu
überantworten, um sie in der Haft zu Grunde gehen zu lassen, oder um sie
gelegentlich mit oder ohne Lösegeld der Freiheit wiederzugeben. Niemals in
der alten Zeit wurde dagegen ein Bedürfniß nach jenen Strafmitteln empfunden,
die wir unter der Kategorie „Freiheitsentziehung" zusammenzufassen gewohnt
sind. Mit andern Worten: als Objekt der Strafe kannten die Völker der
antiken Welt, des Mittelalters und der Neuzeit bis vor etwa 120 Jahren nicht
die natürliche Freiheit, sondern ausschließlich Leib und Leben, Vermögen, Hei¬
mat und Volksgemeinschaft.

Niemand ferner dachte über die Berechtigung der Strafe nach, sie war
eben Strafe, nicht mehr und nicht weniger; mit ihr einen zeitlichen Zweck zu
verbinden, fiel keiner Seele ein, die Gerechtigkeit war Selbstzweck. Erst als
der Kultus der Menschenpersönlichkeit sich anspruchsvoll an den Platz drängte,
den bisher die alten Kulte religiöser Gottesverehrung eingenommen hatten,
änderte sich das allmählich. Fortan stand in den Vorstellungen der Zeit das
Recht des Menschen auf sein Leben höher als alle göttliche und menschliche
Strafgewalt. Die Herrschaft der Strafrechtstheorieen begann, und die Gesetz¬
gebung machte sich ans Werk, die Strafe nach ihren Zwecken zurechtzuschnitzeln.

Es kam die Zeit, wo die Staatsraison die Regierenden beherrschte. Die
landespolizeiliche Fürsorge für Wohl und Wehe der Unterthanen, für Rechts-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0242" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143297"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Hegen die Freiheitsstrafen.<lb/>
Ein Beitrag zur Kritik des heutigen Strafsystems.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_709"> So nennt sich eine soeben im Verlage von Hirzel in Leipzig erschienene kleine<lb/>
Schrift von Dr. Otto Mittelstadt, mit deren Inhalt wir durchweg über¬<lb/>
einstimmen, und die wir den Lesern d. Bl. dringend zur Beachtung empfehlen,<lb/>
da sie eine brennende Frage der Zeit vom Standpunkte eines Mannes be¬<lb/>
trachtet, der nach langjähriger Erfahrung prüft und urtheilt und sich dabei<lb/>
durch Rücksichten auf landläufige Gefühle und Doktrinen in keiner Weise be¬<lb/>
irren läßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_710"> Unter Juristen wie unter Laien wird heutzutage gemeinhin als selbstver¬<lb/>
ständlich angenommen, daß Gefängnißstrafen zu allen Zeiten und bei allen<lb/>
Völkern existirt haben. Das ist aber, wie der Verfasser unsrer Schrift aus¬<lb/>
führlich nachweist, keineswegs der Fall. Zwar hat es immer Verließe und<lb/>
Kerker gegeben, aber nur als Formen des Kampfes und Werkzeuge des Krieges,<lb/>
die dazu dienten, Feinde des Landes, des Volkes, des gemeinen Friedens zu<lb/>
verwahren, um sie demnächst dem Tode, der Sklaverei, der Verbannung zu<lb/>
überantworten, um sie in der Haft zu Grunde gehen zu lassen, oder um sie<lb/>
gelegentlich mit oder ohne Lösegeld der Freiheit wiederzugeben. Niemals in<lb/>
der alten Zeit wurde dagegen ein Bedürfniß nach jenen Strafmitteln empfunden,<lb/>
die wir unter der Kategorie &#x201E;Freiheitsentziehung" zusammenzufassen gewohnt<lb/>
sind. Mit andern Worten: als Objekt der Strafe kannten die Völker der<lb/>
antiken Welt, des Mittelalters und der Neuzeit bis vor etwa 120 Jahren nicht<lb/>
die natürliche Freiheit, sondern ausschließlich Leib und Leben, Vermögen, Hei¬<lb/>
mat und Volksgemeinschaft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_711"> Niemand ferner dachte über die Berechtigung der Strafe nach, sie war<lb/>
eben Strafe, nicht mehr und nicht weniger; mit ihr einen zeitlichen Zweck zu<lb/>
verbinden, fiel keiner Seele ein, die Gerechtigkeit war Selbstzweck. Erst als<lb/>
der Kultus der Menschenpersönlichkeit sich anspruchsvoll an den Platz drängte,<lb/>
den bisher die alten Kulte religiöser Gottesverehrung eingenommen hatten,<lb/>
änderte sich das allmählich. Fortan stand in den Vorstellungen der Zeit das<lb/>
Recht des Menschen auf sein Leben höher als alle göttliche und menschliche<lb/>
Strafgewalt. Die Herrschaft der Strafrechtstheorieen begann, und die Gesetz¬<lb/>
gebung machte sich ans Werk, die Strafe nach ihren Zwecken zurechtzuschnitzeln.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_712" next="#ID_713"> Es kam die Zeit, wo die Staatsraison die Regierenden beherrschte. Die<lb/>
landespolizeiliche Fürsorge für Wohl und Wehe der Unterthanen, für Rechts-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0242] Hegen die Freiheitsstrafen. Ein Beitrag zur Kritik des heutigen Strafsystems. So nennt sich eine soeben im Verlage von Hirzel in Leipzig erschienene kleine Schrift von Dr. Otto Mittelstadt, mit deren Inhalt wir durchweg über¬ einstimmen, und die wir den Lesern d. Bl. dringend zur Beachtung empfehlen, da sie eine brennende Frage der Zeit vom Standpunkte eines Mannes be¬ trachtet, der nach langjähriger Erfahrung prüft und urtheilt und sich dabei durch Rücksichten auf landläufige Gefühle und Doktrinen in keiner Weise be¬ irren läßt. Unter Juristen wie unter Laien wird heutzutage gemeinhin als selbstver¬ ständlich angenommen, daß Gefängnißstrafen zu allen Zeiten und bei allen Völkern existirt haben. Das ist aber, wie der Verfasser unsrer Schrift aus¬ führlich nachweist, keineswegs der Fall. Zwar hat es immer Verließe und Kerker gegeben, aber nur als Formen des Kampfes und Werkzeuge des Krieges, die dazu dienten, Feinde des Landes, des Volkes, des gemeinen Friedens zu verwahren, um sie demnächst dem Tode, der Sklaverei, der Verbannung zu überantworten, um sie in der Haft zu Grunde gehen zu lassen, oder um sie gelegentlich mit oder ohne Lösegeld der Freiheit wiederzugeben. Niemals in der alten Zeit wurde dagegen ein Bedürfniß nach jenen Strafmitteln empfunden, die wir unter der Kategorie „Freiheitsentziehung" zusammenzufassen gewohnt sind. Mit andern Worten: als Objekt der Strafe kannten die Völker der antiken Welt, des Mittelalters und der Neuzeit bis vor etwa 120 Jahren nicht die natürliche Freiheit, sondern ausschließlich Leib und Leben, Vermögen, Hei¬ mat und Volksgemeinschaft. Niemand ferner dachte über die Berechtigung der Strafe nach, sie war eben Strafe, nicht mehr und nicht weniger; mit ihr einen zeitlichen Zweck zu verbinden, fiel keiner Seele ein, die Gerechtigkeit war Selbstzweck. Erst als der Kultus der Menschenpersönlichkeit sich anspruchsvoll an den Platz drängte, den bisher die alten Kulte religiöser Gottesverehrung eingenommen hatten, änderte sich das allmählich. Fortan stand in den Vorstellungen der Zeit das Recht des Menschen auf sein Leben höher als alle göttliche und menschliche Strafgewalt. Die Herrschaft der Strafrechtstheorieen begann, und die Gesetz¬ gebung machte sich ans Werk, die Strafe nach ihren Zwecken zurechtzuschnitzeln. Es kam die Zeit, wo die Staatsraison die Regierenden beherrschte. Die landespolizeiliche Fürsorge für Wohl und Wehe der Unterthanen, für Rechts-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/242
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/242>, abgerufen am 23.07.2024.