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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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schlossenheit von der Außenwelt, Einsamkeit in der Stille der Gefängnißzelle,
Gebet und Kasteiung und, in Rückwirkung dessen auf den innern Menschen,
Einkehr in sich selbst, Reue und Buße sollten die Hebel zur Zurückbringung
des Sünders in die Gemeinschaft der Gerechten, der Gotteskinder werden. Der
Gedanke fand Anklang, zunächst in Amerika, wo der Eifer der Sekten, gedul¬
digen Menschenstoff für die Proselytenmacherei zu gewinnen, die Besserungssucht
der Philanthropen, die Leidenschaft der Architekten, sich an äußerlich großartigen,
innerlich vielgliederigen Bauten zu versuchen, die Freude an Ordnung, Son¬
derung, Zucht und dem Schein bis ins Kleinste durchgeführter Zweckmäßigkeit
sich gleich sehr von dem neuen "System" angezogen fühlten. Im dritten Jahr¬
zehnt unseres Jahrhunderts entstanden so in Pennsylvanien die berühmten
Bußanstalten zu Cherry Hill und Pittsburg. In der alten Welt ahmten das
durch die Julirevolution umgewandelte Frankreich, dann Belgien und England
das dort gegebene Beispiel nach; dann bereicherte das Jahr 1848 auch Deutsch¬
land in den Zellengefängnissen von Moabit und Bruchsal mit den Offen¬
barungen der neuesten Gefängnißwissenschaft.

Da die Menschen sich stets über ihre Werke freuen, besonders wenn die¬
selben sich als sinnreich und kunstvoll darstellen, so schienen diese neuen Muster¬
anstalten anfangs aller Welt alles zu erfüllen, was man von ihnen erwartet
hatte. Sie waren vortrefflich, namentlich verglichen mit den Strafanstalten
mit gemeinsamer Haft. Wie licht und luftig, wie durchsichtig geordnet, wie
makellos sauber waren diese endlosen Gänge und Zellen! Wie wohlgekleidet,
wie in sich gekehrt, wie arbeitsam jeder Gefangene! Welcher Klosterfrieden!
Welch ein schön geregeltes Räderwerk das Ganze! In der That, niemand
konnte zweifeln, daß hier der wahre Weg von der Sünde und Schuld durch
Läuterung und Sinnesänderung des alten Adam zur Glückseligkeit gefunden
sei. Nur eins war an der Sache auszusetzen: die Kuranstalten des modernen
Heilverfahrens in Betreff der Verbrecherwelt kostete heillos viel Geld. Es war
indeß eine gute Sache, und so mußte das Geld geschafft werden. Man schwelgte
förmlich in der Sehnsucht nach immer mehr Zellengefängnissen und immer mehr
Jsolirhaft.

Inzwischen ist das Leben, sich wenig um die guten Absichten der Welt¬
verbesserer kümmernd, seine Wege weiter gewandelt. Die Gefängnisse und deren
Bevölkerung haben stetig zugenommen. Seit 1870 haben beide sich dermaßen
vermehrt, daß selbst der verstockteste Optimismus stutzig zu werden anfängt und
der Glaube an die Heilswahrheit des neuen Systems bei Vielen erschüttert
oder ganz in die Brüche gegangen ist. Niemand wagt mehr zu behaupten,
Rechtsordnung und Rechtsfrieden seien durch die modernisirte Strafrechtspflege
gefördert worden. Ein Gefühl des Unbehagens durchzieht weite Kreise des


schlossenheit von der Außenwelt, Einsamkeit in der Stille der Gefängnißzelle,
Gebet und Kasteiung und, in Rückwirkung dessen auf den innern Menschen,
Einkehr in sich selbst, Reue und Buße sollten die Hebel zur Zurückbringung
des Sünders in die Gemeinschaft der Gerechten, der Gotteskinder werden. Der
Gedanke fand Anklang, zunächst in Amerika, wo der Eifer der Sekten, gedul¬
digen Menschenstoff für die Proselytenmacherei zu gewinnen, die Besserungssucht
der Philanthropen, die Leidenschaft der Architekten, sich an äußerlich großartigen,
innerlich vielgliederigen Bauten zu versuchen, die Freude an Ordnung, Son¬
derung, Zucht und dem Schein bis ins Kleinste durchgeführter Zweckmäßigkeit
sich gleich sehr von dem neuen „System" angezogen fühlten. Im dritten Jahr¬
zehnt unseres Jahrhunderts entstanden so in Pennsylvanien die berühmten
Bußanstalten zu Cherry Hill und Pittsburg. In der alten Welt ahmten das
durch die Julirevolution umgewandelte Frankreich, dann Belgien und England
das dort gegebene Beispiel nach; dann bereicherte das Jahr 1848 auch Deutsch¬
land in den Zellengefängnissen von Moabit und Bruchsal mit den Offen¬
barungen der neuesten Gefängnißwissenschaft.

Da die Menschen sich stets über ihre Werke freuen, besonders wenn die¬
selben sich als sinnreich und kunstvoll darstellen, so schienen diese neuen Muster¬
anstalten anfangs aller Welt alles zu erfüllen, was man von ihnen erwartet
hatte. Sie waren vortrefflich, namentlich verglichen mit den Strafanstalten
mit gemeinsamer Haft. Wie licht und luftig, wie durchsichtig geordnet, wie
makellos sauber waren diese endlosen Gänge und Zellen! Wie wohlgekleidet,
wie in sich gekehrt, wie arbeitsam jeder Gefangene! Welcher Klosterfrieden!
Welch ein schön geregeltes Räderwerk das Ganze! In der That, niemand
konnte zweifeln, daß hier der wahre Weg von der Sünde und Schuld durch
Läuterung und Sinnesänderung des alten Adam zur Glückseligkeit gefunden
sei. Nur eins war an der Sache auszusetzen: die Kuranstalten des modernen
Heilverfahrens in Betreff der Verbrecherwelt kostete heillos viel Geld. Es war
indeß eine gute Sache, und so mußte das Geld geschafft werden. Man schwelgte
förmlich in der Sehnsucht nach immer mehr Zellengefängnissen und immer mehr
Jsolirhaft.

Inzwischen ist das Leben, sich wenig um die guten Absichten der Welt¬
verbesserer kümmernd, seine Wege weiter gewandelt. Die Gefängnisse und deren
Bevölkerung haben stetig zugenommen. Seit 1870 haben beide sich dermaßen
vermehrt, daß selbst der verstockteste Optimismus stutzig zu werden anfängt und
der Glaube an die Heilswahrheit des neuen Systems bei Vielen erschüttert
oder ganz in die Brüche gegangen ist. Niemand wagt mehr zu behaupten,
Rechtsordnung und Rechtsfrieden seien durch die modernisirte Strafrechtspflege
gefördert worden. Ein Gefühl des Unbehagens durchzieht weite Kreise des


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[0244] schlossenheit von der Außenwelt, Einsamkeit in der Stille der Gefängnißzelle, Gebet und Kasteiung und, in Rückwirkung dessen auf den innern Menschen, Einkehr in sich selbst, Reue und Buße sollten die Hebel zur Zurückbringung des Sünders in die Gemeinschaft der Gerechten, der Gotteskinder werden. Der Gedanke fand Anklang, zunächst in Amerika, wo der Eifer der Sekten, gedul¬ digen Menschenstoff für die Proselytenmacherei zu gewinnen, die Besserungssucht der Philanthropen, die Leidenschaft der Architekten, sich an äußerlich großartigen, innerlich vielgliederigen Bauten zu versuchen, die Freude an Ordnung, Son¬ derung, Zucht und dem Schein bis ins Kleinste durchgeführter Zweckmäßigkeit sich gleich sehr von dem neuen „System" angezogen fühlten. Im dritten Jahr¬ zehnt unseres Jahrhunderts entstanden so in Pennsylvanien die berühmten Bußanstalten zu Cherry Hill und Pittsburg. In der alten Welt ahmten das durch die Julirevolution umgewandelte Frankreich, dann Belgien und England das dort gegebene Beispiel nach; dann bereicherte das Jahr 1848 auch Deutsch¬ land in den Zellengefängnissen von Moabit und Bruchsal mit den Offen¬ barungen der neuesten Gefängnißwissenschaft. Da die Menschen sich stets über ihre Werke freuen, besonders wenn die¬ selben sich als sinnreich und kunstvoll darstellen, so schienen diese neuen Muster¬ anstalten anfangs aller Welt alles zu erfüllen, was man von ihnen erwartet hatte. Sie waren vortrefflich, namentlich verglichen mit den Strafanstalten mit gemeinsamer Haft. Wie licht und luftig, wie durchsichtig geordnet, wie makellos sauber waren diese endlosen Gänge und Zellen! Wie wohlgekleidet, wie in sich gekehrt, wie arbeitsam jeder Gefangene! Welcher Klosterfrieden! Welch ein schön geregeltes Räderwerk das Ganze! In der That, niemand konnte zweifeln, daß hier der wahre Weg von der Sünde und Schuld durch Läuterung und Sinnesänderung des alten Adam zur Glückseligkeit gefunden sei. Nur eins war an der Sache auszusetzen: die Kuranstalten des modernen Heilverfahrens in Betreff der Verbrecherwelt kostete heillos viel Geld. Es war indeß eine gute Sache, und so mußte das Geld geschafft werden. Man schwelgte förmlich in der Sehnsucht nach immer mehr Zellengefängnissen und immer mehr Jsolirhaft. Inzwischen ist das Leben, sich wenig um die guten Absichten der Welt¬ verbesserer kümmernd, seine Wege weiter gewandelt. Die Gefängnisse und deren Bevölkerung haben stetig zugenommen. Seit 1870 haben beide sich dermaßen vermehrt, daß selbst der verstockteste Optimismus stutzig zu werden anfängt und der Glaube an die Heilswahrheit des neuen Systems bei Vielen erschüttert oder ganz in die Brüche gegangen ist. Niemand wagt mehr zu behaupten, Rechtsordnung und Rechtsfrieden seien durch die modernisirte Strafrechtspflege gefördert worden. Ein Gefühl des Unbehagens durchzieht weite Kreise des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/244>, abgerufen am 23.07.2024.