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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Der Jugend und Romantik steht auch hier die reifere nach Klassizität strebende
Zeit gegenüber, zwischen beiden liegt eine Periode des Uebergangs (1836 bis
1838), welche die eine Richtung im wesentlichen abschließt, zu der anderen
hinüberleitet.

Die Jugend ist die Zeit unmittelbaren lyrischen Ergusses in Lied und
Monolog, die Zeit der Ballade. Der Jüngling, phantasievoll, kühn bis zur
Verwegenheit, im Ausdruck konkret bis zu Mißgriffen, strebt nach Shakespeare-
schem Bilderreichthum, ja nach Mythenbildung, versucht wie Goethe -- darin
vielleicht sein glücklichster Schüler -- warme, dämmernde Empfindung in ein
Stimmungsvolles Wort zu fassen, und hat vor allem vom Volksliede, das ihm
innerlich verwandt ist, gelernt, die ganze Innigkeit seiner Seele in die schlich¬
testen Worte zu legen. Seine Stoffe sind Natur und Herz, die Natur hier
nicht so sehr in ihren kleinsten Erscheinungen als in den großen, elementaren.
Wie beschäftigt ihn in diesen Jahren der Tag und die Nacht, das Räthsel des
Windes, das Geheimniß des Wassers! Der Tag springt als Gott von seinem
Lager empor, gelassen steigt die Nacht, eine ernste Frau, ans Land oder sitzt
gebückt auf ihre Harfe, und ihr Finger stößt wohl einmal im Traum an die
Saiten. Wiederum ist die Nacht der Mohrenknabe, der Tag das Mädchen
im Rosenkleide, die sich lieben und doch ewig fliehen. Recht der Kultur zum
Trotz stehen die alten Götter des Windes, des Wassers wieder auf, nicht nur
furchtbar dem Menschen, auch falsch, tückisch wie ihr Element. Nur so ist die
"schlimme Greld", sind die "Nixenmärchen" zu verstehen. Aber wie viel An¬
muth ginge dem verloren, der wegen des unbefriedigender Stoffes sich das
Gedicht "Vom Sieben-Nixen-Chor" entgehen lassen wollte! Als Elementarge¬
walt erscheint auch die Liebe, unbekannten Ursprungs, unwiderstehlich, leider
auch unbeständig wie der Wind, wie die Quelle. So ist denn von Untreue
viel zu sagen. Und hier hat Mörike als Lyriker das Höchste geleistet. Innigeres
ist aus dem Bunde unserer Lyrik mit dem Volksliede überhaupt nicht hervor¬
gegangen als das Lied "Früh, wann die Hähne krähn". Für kindliche Frömmig¬
keit, für Trostgefühl beim Klänge der Morgenglocken, für Frühlingsjubel und
Herbstgefühl findet er echte Herzenstöne, tiefempfundenes Trostbedürfniß strömt
er in schwermüthigen Trochäen aus, es gelingt ihm, im lieblichsten Bilde die
Erinnerung an eine Kinderliebe festzuhalten und in dem Gedichte, das als pracht¬
volle Ouvertüre die Sammlung eröffnet, uns den erwartungsvollen Drang des
Jünglings in all seiner wogenden Unbestimmtheit zu vergegenwärtigen. Weit
weniger vermögen wir im "Besuch in Urach" und in den Peregrina - Liedern
die hochgehenden Empfindungen zu theilen, deren Quellen im Dunkel bleiben.
Die Ballade weiß neben den Elementargewalten "geisterschwüle" Stimmungen
charakteristisch vorzuführen, aber die Handlung bleibt schattenhaft. In formeller


Der Jugend und Romantik steht auch hier die reifere nach Klassizität strebende
Zeit gegenüber, zwischen beiden liegt eine Periode des Uebergangs (1836 bis
1838), welche die eine Richtung im wesentlichen abschließt, zu der anderen
hinüberleitet.

Die Jugend ist die Zeit unmittelbaren lyrischen Ergusses in Lied und
Monolog, die Zeit der Ballade. Der Jüngling, phantasievoll, kühn bis zur
Verwegenheit, im Ausdruck konkret bis zu Mißgriffen, strebt nach Shakespeare-
schem Bilderreichthum, ja nach Mythenbildung, versucht wie Goethe — darin
vielleicht sein glücklichster Schüler — warme, dämmernde Empfindung in ein
Stimmungsvolles Wort zu fassen, und hat vor allem vom Volksliede, das ihm
innerlich verwandt ist, gelernt, die ganze Innigkeit seiner Seele in die schlich¬
testen Worte zu legen. Seine Stoffe sind Natur und Herz, die Natur hier
nicht so sehr in ihren kleinsten Erscheinungen als in den großen, elementaren.
Wie beschäftigt ihn in diesen Jahren der Tag und die Nacht, das Räthsel des
Windes, das Geheimniß des Wassers! Der Tag springt als Gott von seinem
Lager empor, gelassen steigt die Nacht, eine ernste Frau, ans Land oder sitzt
gebückt auf ihre Harfe, und ihr Finger stößt wohl einmal im Traum an die
Saiten. Wiederum ist die Nacht der Mohrenknabe, der Tag das Mädchen
im Rosenkleide, die sich lieben und doch ewig fliehen. Recht der Kultur zum
Trotz stehen die alten Götter des Windes, des Wassers wieder auf, nicht nur
furchtbar dem Menschen, auch falsch, tückisch wie ihr Element. Nur so ist die
„schlimme Greld", sind die „Nixenmärchen" zu verstehen. Aber wie viel An¬
muth ginge dem verloren, der wegen des unbefriedigender Stoffes sich das
Gedicht „Vom Sieben-Nixen-Chor" entgehen lassen wollte! Als Elementarge¬
walt erscheint auch die Liebe, unbekannten Ursprungs, unwiderstehlich, leider
auch unbeständig wie der Wind, wie die Quelle. So ist denn von Untreue
viel zu sagen. Und hier hat Mörike als Lyriker das Höchste geleistet. Innigeres
ist aus dem Bunde unserer Lyrik mit dem Volksliede überhaupt nicht hervor¬
gegangen als das Lied „Früh, wann die Hähne krähn". Für kindliche Frömmig¬
keit, für Trostgefühl beim Klänge der Morgenglocken, für Frühlingsjubel und
Herbstgefühl findet er echte Herzenstöne, tiefempfundenes Trostbedürfniß strömt
er in schwermüthigen Trochäen aus, es gelingt ihm, im lieblichsten Bilde die
Erinnerung an eine Kinderliebe festzuhalten und in dem Gedichte, das als pracht¬
volle Ouvertüre die Sammlung eröffnet, uns den erwartungsvollen Drang des
Jünglings in all seiner wogenden Unbestimmtheit zu vergegenwärtigen. Weit
weniger vermögen wir im „Besuch in Urach" und in den Peregrina - Liedern
die hochgehenden Empfindungen zu theilen, deren Quellen im Dunkel bleiben.
Die Ballade weiß neben den Elementargewalten „geisterschwüle" Stimmungen
charakteristisch vorzuführen, aber die Handlung bleibt schattenhaft. In formeller


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/188>, abgerufen am 23.07.2024.