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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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was unsere Novellistik hervorgebracht hat, im "Novellenschatz" vereinigten,
haben sie mit Recht ausgezeichnet. Der erste glückliche Wurf liegt in der Wahl
der Situation. Nicht nur müssen Mozarts Wirthe die ihnen unverhofft ge¬
gönnten Stunden mit ihm auslaufen, sondern auch er hat, wie die Dinge
liegen, allen Grund, sich ganz und rückhaltlos zu geben, alle die "hundert goldenen
Röhren" seines Wesens und seiner Kunst springen zu lassen. So glücklich der
Dichter aber den Stoff zu konzentriren wußte, eben so glücklich hat er ihn zu
erweitern und zu vertiefen verstanden: durch das Vorspiel im Reisewagen,
durch das Nachspiel im Schloß, durch die Episoden. Diese ergeben sich hier
aufs ungezwungenste aus der Situation, haben einen unmittelbaren Bezug
auf die Handlung, stehen aber überdies auch durch zartere Fäden mit dem
Thema oder doch mit der geistigen Atmosphäre der Novelle in Zusammenhang.
Ueberhaupt ist die Komposition vortrefflich. Von dem harmlosen Reisegeplauder,
von jener kritischen Situation des Helden in der "Laube des Tiberius" bis
hinauf zu dem Moment, wo wir ihn als Träger der höchsten musikalischen
Offenbarung auf dem Gipfel und zugleich am Absturz menschlichen Geschicks
-- das Grab vor Augen -- erblicken, welcher Wechsel von Situationen und
Stimmungen, und in diesem Wechsel welche Steigerung! Wir empfangen in
der That den Eindruck des ganzen Mozart, des jovialen, liebenswürdig unbe¬
fangenen, lebensprühenden und in der eignen Flamme sich verzehrenden Künst¬
lers, im engen Rahmen den Gehalt eines ganzen Lebens. Aber auch die
übrigen Charaktere wie trefflich gezeichnet, Madame Mozart vor Allen, und
wie wirksam als Ensemble! Wie versteht der Dichter sich in die graziöse Ge¬
selligkeit, in die heitere Lebensauffassung der Rokokozeit zu versetzen, uns das
frischeste, lachendste Leben -- "sprützend von Fröhlichkeit über und über" -- zu
zeigen und in dieses sonnige Bild hinein die Ahnung von Mozarts frühem
Tod fallen zu lassen. Und wie hat er diesen ganzen zauberhaften Kontrast
noch einmal konzentrirt in dem ergreifenden Liede "Denk' es, o Seele": Das
frische Grün der Weide, die muntern Rößlein vorn im hellen Sonnenlicht, und
im Hintergrunde zieht es schon herauf wie eine schwarze Wetterwand. Die
liebevolle Ausbildung des Stoffes bis ins kleinste Detail, die Sprache, die wie
ein durchgespieltes Instrument willig jeden Ton, jede Nüance hergibt, Alles
trägt den Stempel des Meisters.

Ein Dichter, dessen Schwäche in der Komposition, dessen Stärke im Detail
liegt, wird am zugänglichsten in seinen Gedichten sein. In seinen Gedichten
vor allem haben wir Mörike zu suchen. Sie sind keineswegs ein lyrisches
Musterbuch, diese Gedichte, aber sie verdienen in der Muth unserer Lyrik unter
den ersten genannt zu werden. Ueber einen Zeitraum von 44 Jahren (1822
bis 1866) sich erstreckend, spiegeln sie die ganze Entwickelung des Dichters.


was unsere Novellistik hervorgebracht hat, im „Novellenschatz" vereinigten,
haben sie mit Recht ausgezeichnet. Der erste glückliche Wurf liegt in der Wahl
der Situation. Nicht nur müssen Mozarts Wirthe die ihnen unverhofft ge¬
gönnten Stunden mit ihm auslaufen, sondern auch er hat, wie die Dinge
liegen, allen Grund, sich ganz und rückhaltlos zu geben, alle die „hundert goldenen
Röhren" seines Wesens und seiner Kunst springen zu lassen. So glücklich der
Dichter aber den Stoff zu konzentriren wußte, eben so glücklich hat er ihn zu
erweitern und zu vertiefen verstanden: durch das Vorspiel im Reisewagen,
durch das Nachspiel im Schloß, durch die Episoden. Diese ergeben sich hier
aufs ungezwungenste aus der Situation, haben einen unmittelbaren Bezug
auf die Handlung, stehen aber überdies auch durch zartere Fäden mit dem
Thema oder doch mit der geistigen Atmosphäre der Novelle in Zusammenhang.
Ueberhaupt ist die Komposition vortrefflich. Von dem harmlosen Reisegeplauder,
von jener kritischen Situation des Helden in der „Laube des Tiberius" bis
hinauf zu dem Moment, wo wir ihn als Träger der höchsten musikalischen
Offenbarung auf dem Gipfel und zugleich am Absturz menschlichen Geschicks
— das Grab vor Augen — erblicken, welcher Wechsel von Situationen und
Stimmungen, und in diesem Wechsel welche Steigerung! Wir empfangen in
der That den Eindruck des ganzen Mozart, des jovialen, liebenswürdig unbe¬
fangenen, lebensprühenden und in der eignen Flamme sich verzehrenden Künst¬
lers, im engen Rahmen den Gehalt eines ganzen Lebens. Aber auch die
übrigen Charaktere wie trefflich gezeichnet, Madame Mozart vor Allen, und
wie wirksam als Ensemble! Wie versteht der Dichter sich in die graziöse Ge¬
selligkeit, in die heitere Lebensauffassung der Rokokozeit zu versetzen, uns das
frischeste, lachendste Leben — „sprützend von Fröhlichkeit über und über" — zu
zeigen und in dieses sonnige Bild hinein die Ahnung von Mozarts frühem
Tod fallen zu lassen. Und wie hat er diesen ganzen zauberhaften Kontrast
noch einmal konzentrirt in dem ergreifenden Liede „Denk' es, o Seele": Das
frische Grün der Weide, die muntern Rößlein vorn im hellen Sonnenlicht, und
im Hintergrunde zieht es schon herauf wie eine schwarze Wetterwand. Die
liebevolle Ausbildung des Stoffes bis ins kleinste Detail, die Sprache, die wie
ein durchgespieltes Instrument willig jeden Ton, jede Nüance hergibt, Alles
trägt den Stempel des Meisters.

Ein Dichter, dessen Schwäche in der Komposition, dessen Stärke im Detail
liegt, wird am zugänglichsten in seinen Gedichten sein. In seinen Gedichten
vor allem haben wir Mörike zu suchen. Sie sind keineswegs ein lyrisches
Musterbuch, diese Gedichte, aber sie verdienen in der Muth unserer Lyrik unter
den ersten genannt zu werden. Ueber einen Zeitraum von 44 Jahren (1822
bis 1866) sich erstreckend, spiegeln sie die ganze Entwickelung des Dichters.


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[0187] was unsere Novellistik hervorgebracht hat, im „Novellenschatz" vereinigten, haben sie mit Recht ausgezeichnet. Der erste glückliche Wurf liegt in der Wahl der Situation. Nicht nur müssen Mozarts Wirthe die ihnen unverhofft ge¬ gönnten Stunden mit ihm auslaufen, sondern auch er hat, wie die Dinge liegen, allen Grund, sich ganz und rückhaltlos zu geben, alle die „hundert goldenen Röhren" seines Wesens und seiner Kunst springen zu lassen. So glücklich der Dichter aber den Stoff zu konzentriren wußte, eben so glücklich hat er ihn zu erweitern und zu vertiefen verstanden: durch das Vorspiel im Reisewagen, durch das Nachspiel im Schloß, durch die Episoden. Diese ergeben sich hier aufs ungezwungenste aus der Situation, haben einen unmittelbaren Bezug auf die Handlung, stehen aber überdies auch durch zartere Fäden mit dem Thema oder doch mit der geistigen Atmosphäre der Novelle in Zusammenhang. Ueberhaupt ist die Komposition vortrefflich. Von dem harmlosen Reisegeplauder, von jener kritischen Situation des Helden in der „Laube des Tiberius" bis hinauf zu dem Moment, wo wir ihn als Träger der höchsten musikalischen Offenbarung auf dem Gipfel und zugleich am Absturz menschlichen Geschicks — das Grab vor Augen — erblicken, welcher Wechsel von Situationen und Stimmungen, und in diesem Wechsel welche Steigerung! Wir empfangen in der That den Eindruck des ganzen Mozart, des jovialen, liebenswürdig unbe¬ fangenen, lebensprühenden und in der eignen Flamme sich verzehrenden Künst¬ lers, im engen Rahmen den Gehalt eines ganzen Lebens. Aber auch die übrigen Charaktere wie trefflich gezeichnet, Madame Mozart vor Allen, und wie wirksam als Ensemble! Wie versteht der Dichter sich in die graziöse Ge¬ selligkeit, in die heitere Lebensauffassung der Rokokozeit zu versetzen, uns das frischeste, lachendste Leben — „sprützend von Fröhlichkeit über und über" — zu zeigen und in dieses sonnige Bild hinein die Ahnung von Mozarts frühem Tod fallen zu lassen. Und wie hat er diesen ganzen zauberhaften Kontrast noch einmal konzentrirt in dem ergreifenden Liede „Denk' es, o Seele": Das frische Grün der Weide, die muntern Rößlein vorn im hellen Sonnenlicht, und im Hintergrunde zieht es schon herauf wie eine schwarze Wetterwand. Die liebevolle Ausbildung des Stoffes bis ins kleinste Detail, die Sprache, die wie ein durchgespieltes Instrument willig jeden Ton, jede Nüance hergibt, Alles trägt den Stempel des Meisters. Ein Dichter, dessen Schwäche in der Komposition, dessen Stärke im Detail liegt, wird am zugänglichsten in seinen Gedichten sein. In seinen Gedichten vor allem haben wir Mörike zu suchen. Sie sind keineswegs ein lyrisches Musterbuch, diese Gedichte, aber sie verdienen in der Muth unserer Lyrik unter den ersten genannt zu werden. Ueber einen Zeitraum von 44 Jahren (1822 bis 1866) sich erstreckend, spiegeln sie die ganze Entwickelung des Dichters.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/187>, abgerufen am 26.08.2024.