Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Die um die Mitte des Jahrhunderts zu größerer Bedeutung und stärkerem
Einfluß gelangende periodische Presse trug allerdings in gewissem Grade zur
Hebung der Bildung bei. Die Essay-Schreiber der Reviews und Magazine
machten es sich zur Aufgabe, das Wissen soviel wie möglich in populärer
Form auszubreiten und jede Frage auch mit Rücksicht auf mittelmäßig auf¬
geweckte und wenig gebildete Leser zu behandeln, und so geschah es, daß ohne
große Veränderung und Verbesserung im System der Erziehung, ohne Entfal¬
tung ungewöhnlichen Talentes und ohne wirkliche Begeisterung für das Wissen
der Umfang des letzteren sich erheblich erweiterte und zwar namentlich unter
den Frauen. Die vorherrschende Derbheit in den Anschauungen und in der
Ausdrucksweise aber wurde dadurch auch bei der vornehmen Welt nur wenig
gemildert, und Sitten und Geschmack ließen auch später außerordentlich viel
zu wünschen übrig. Die Schriften von Swift, Coventry, Defoe, Fielding und
Smollet genügen, um den Abstand erkennen zu lassen, der in dieser Hinsicht
die ersten sechs bis sieben Dezennien des vorigen Jahrhunderts von unsern
Tagen trennt. Der Hof gab das allerschlechteste Beispiel. Georg der Erste
und der Zweite lebten ganz ungescheut öffentlich mit ihren Mätressen, und die
Sittenlosigkeit der damaligen Hofkreise hatte nicht das Mindeste von jener
Feinheit und Anmuth, welche anderswo oft über tiefer gehende und allgemei¬
nere Verderbtheit einen halbwegs versöhnenden Schleier warfen. Walter Scott
berichtet uns, wie eine Großtante ihm erzählt, daß in ihrer Jugend die Romane
der frivolen Schriftstellerin Aphra Behn ebenso häufig auf den Toilettentischen
der vornehmen Damen zu finden gewesen wie in ihren alten Tagen die Schrif¬
ten der Miß Edgeworth, und er schildert uns mit größter Lebendigkeit das
Erstaunen der Matrone, als sie nach langen Jahren aus Neugier die verges¬
senen Blätter überflog, an denen sie sich als Mädchen ergötzt hatte, und nun
fand, daß sie in einem Alter von achtzig Sommern nicht mehr ohne Scham für
sich allein lesen konnte, was sie sechzig Jahre vorher in großen Zirkeln der
besten Gesellschaft Londons laut hatte vorlesen hören.

Ganz ungeheuerliche Dimensionen nahm unter den ersten beiden hannover-
schen Königen in England die Spiel- und Gründerwuth an. Fast ebenso stark
und thöricht wie in unsern Tagen in ganz Europa, ja bisweilen lächerlicher
und toller äußerte sich damals das Streben, rasch zu Vermögen zu gelangen,
und die Geringachtung langsam und stetig erwerbender ehrlicher Arbeit. Welche
wahnwitzige Spekulation und welche Leichtgläubigkeit der sogenannte Südsee-
Schwindel enthüllte, ist bekannt. Aber andere Gründungen gleicher Art folgten
ihm. Pläne auf Pläne, einer immer abenteuerlicher als der andere, stiegen
wie Seifenblasen ans, blendeten und zerplatzten. Gesellschaften zur "Anffischung
von Wracks an der Küste Irlands", zur "Versicherung gegen Verluste durch


Die um die Mitte des Jahrhunderts zu größerer Bedeutung und stärkerem
Einfluß gelangende periodische Presse trug allerdings in gewissem Grade zur
Hebung der Bildung bei. Die Essay-Schreiber der Reviews und Magazine
machten es sich zur Aufgabe, das Wissen soviel wie möglich in populärer
Form auszubreiten und jede Frage auch mit Rücksicht auf mittelmäßig auf¬
geweckte und wenig gebildete Leser zu behandeln, und so geschah es, daß ohne
große Veränderung und Verbesserung im System der Erziehung, ohne Entfal¬
tung ungewöhnlichen Talentes und ohne wirkliche Begeisterung für das Wissen
der Umfang des letzteren sich erheblich erweiterte und zwar namentlich unter
den Frauen. Die vorherrschende Derbheit in den Anschauungen und in der
Ausdrucksweise aber wurde dadurch auch bei der vornehmen Welt nur wenig
gemildert, und Sitten und Geschmack ließen auch später außerordentlich viel
zu wünschen übrig. Die Schriften von Swift, Coventry, Defoe, Fielding und
Smollet genügen, um den Abstand erkennen zu lassen, der in dieser Hinsicht
die ersten sechs bis sieben Dezennien des vorigen Jahrhunderts von unsern
Tagen trennt. Der Hof gab das allerschlechteste Beispiel. Georg der Erste
und der Zweite lebten ganz ungescheut öffentlich mit ihren Mätressen, und die
Sittenlosigkeit der damaligen Hofkreise hatte nicht das Mindeste von jener
Feinheit und Anmuth, welche anderswo oft über tiefer gehende und allgemei¬
nere Verderbtheit einen halbwegs versöhnenden Schleier warfen. Walter Scott
berichtet uns, wie eine Großtante ihm erzählt, daß in ihrer Jugend die Romane
der frivolen Schriftstellerin Aphra Behn ebenso häufig auf den Toilettentischen
der vornehmen Damen zu finden gewesen wie in ihren alten Tagen die Schrif¬
ten der Miß Edgeworth, und er schildert uns mit größter Lebendigkeit das
Erstaunen der Matrone, als sie nach langen Jahren aus Neugier die verges¬
senen Blätter überflog, an denen sie sich als Mädchen ergötzt hatte, und nun
fand, daß sie in einem Alter von achtzig Sommern nicht mehr ohne Scham für
sich allein lesen konnte, was sie sechzig Jahre vorher in großen Zirkeln der
besten Gesellschaft Londons laut hatte vorlesen hören.

Ganz ungeheuerliche Dimensionen nahm unter den ersten beiden hannover-
schen Königen in England die Spiel- und Gründerwuth an. Fast ebenso stark
und thöricht wie in unsern Tagen in ganz Europa, ja bisweilen lächerlicher
und toller äußerte sich damals das Streben, rasch zu Vermögen zu gelangen,
und die Geringachtung langsam und stetig erwerbender ehrlicher Arbeit. Welche
wahnwitzige Spekulation und welche Leichtgläubigkeit der sogenannte Südsee-
Schwindel enthüllte, ist bekannt. Aber andere Gründungen gleicher Art folgten
ihm. Pläne auf Pläne, einer immer abenteuerlicher als der andere, stiegen
wie Seifenblasen ans, blendeten und zerplatzten. Gesellschaften zur „Anffischung
von Wracks an der Küste Irlands", zur „Versicherung gegen Verluste durch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0158" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143213"/>
          <p xml:id="ID_480"> Die um die Mitte des Jahrhunderts zu größerer Bedeutung und stärkerem<lb/>
Einfluß gelangende periodische Presse trug allerdings in gewissem Grade zur<lb/>
Hebung der Bildung bei. Die Essay-Schreiber der Reviews und Magazine<lb/>
machten es sich zur Aufgabe, das Wissen soviel wie möglich in populärer<lb/>
Form auszubreiten und jede Frage auch mit Rücksicht auf mittelmäßig auf¬<lb/>
geweckte und wenig gebildete Leser zu behandeln, und so geschah es, daß ohne<lb/>
große Veränderung und Verbesserung im System der Erziehung, ohne Entfal¬<lb/>
tung ungewöhnlichen Talentes und ohne wirkliche Begeisterung für das Wissen<lb/>
der Umfang des letzteren sich erheblich erweiterte und zwar namentlich unter<lb/>
den Frauen. Die vorherrschende Derbheit in den Anschauungen und in der<lb/>
Ausdrucksweise aber wurde dadurch auch bei der vornehmen Welt nur wenig<lb/>
gemildert, und Sitten und Geschmack ließen auch später außerordentlich viel<lb/>
zu wünschen übrig. Die Schriften von Swift, Coventry, Defoe, Fielding und<lb/>
Smollet genügen, um den Abstand erkennen zu lassen, der in dieser Hinsicht<lb/>
die ersten sechs bis sieben Dezennien des vorigen Jahrhunderts von unsern<lb/>
Tagen trennt. Der Hof gab das allerschlechteste Beispiel. Georg der Erste<lb/>
und der Zweite lebten ganz ungescheut öffentlich mit ihren Mätressen, und die<lb/>
Sittenlosigkeit der damaligen Hofkreise hatte nicht das Mindeste von jener<lb/>
Feinheit und Anmuth, welche anderswo oft über tiefer gehende und allgemei¬<lb/>
nere Verderbtheit einen halbwegs versöhnenden Schleier warfen. Walter Scott<lb/>
berichtet uns, wie eine Großtante ihm erzählt, daß in ihrer Jugend die Romane<lb/>
der frivolen Schriftstellerin Aphra Behn ebenso häufig auf den Toilettentischen<lb/>
der vornehmen Damen zu finden gewesen wie in ihren alten Tagen die Schrif¬<lb/>
ten der Miß Edgeworth, und er schildert uns mit größter Lebendigkeit das<lb/>
Erstaunen der Matrone, als sie nach langen Jahren aus Neugier die verges¬<lb/>
senen Blätter überflog, an denen sie sich als Mädchen ergötzt hatte, und nun<lb/>
fand, daß sie in einem Alter von achtzig Sommern nicht mehr ohne Scham für<lb/>
sich allein lesen konnte, was sie sechzig Jahre vorher in großen Zirkeln der<lb/>
besten Gesellschaft Londons laut hatte vorlesen hören.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_481" next="#ID_482"> Ganz ungeheuerliche Dimensionen nahm unter den ersten beiden hannover-<lb/>
schen Königen in England die Spiel- und Gründerwuth an. Fast ebenso stark<lb/>
und thöricht wie in unsern Tagen in ganz Europa, ja bisweilen lächerlicher<lb/>
und toller äußerte sich damals das Streben, rasch zu Vermögen zu gelangen,<lb/>
und die Geringachtung langsam und stetig erwerbender ehrlicher Arbeit. Welche<lb/>
wahnwitzige Spekulation und welche Leichtgläubigkeit der sogenannte Südsee-<lb/>
Schwindel enthüllte, ist bekannt. Aber andere Gründungen gleicher Art folgten<lb/>
ihm. Pläne auf Pläne, einer immer abenteuerlicher als der andere, stiegen<lb/>
wie Seifenblasen ans, blendeten und zerplatzten. Gesellschaften zur &#x201E;Anffischung<lb/>
von Wracks an der Küste Irlands", zur &#x201E;Versicherung gegen Verluste durch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0158] Die um die Mitte des Jahrhunderts zu größerer Bedeutung und stärkerem Einfluß gelangende periodische Presse trug allerdings in gewissem Grade zur Hebung der Bildung bei. Die Essay-Schreiber der Reviews und Magazine machten es sich zur Aufgabe, das Wissen soviel wie möglich in populärer Form auszubreiten und jede Frage auch mit Rücksicht auf mittelmäßig auf¬ geweckte und wenig gebildete Leser zu behandeln, und so geschah es, daß ohne große Veränderung und Verbesserung im System der Erziehung, ohne Entfal¬ tung ungewöhnlichen Talentes und ohne wirkliche Begeisterung für das Wissen der Umfang des letzteren sich erheblich erweiterte und zwar namentlich unter den Frauen. Die vorherrschende Derbheit in den Anschauungen und in der Ausdrucksweise aber wurde dadurch auch bei der vornehmen Welt nur wenig gemildert, und Sitten und Geschmack ließen auch später außerordentlich viel zu wünschen übrig. Die Schriften von Swift, Coventry, Defoe, Fielding und Smollet genügen, um den Abstand erkennen zu lassen, der in dieser Hinsicht die ersten sechs bis sieben Dezennien des vorigen Jahrhunderts von unsern Tagen trennt. Der Hof gab das allerschlechteste Beispiel. Georg der Erste und der Zweite lebten ganz ungescheut öffentlich mit ihren Mätressen, und die Sittenlosigkeit der damaligen Hofkreise hatte nicht das Mindeste von jener Feinheit und Anmuth, welche anderswo oft über tiefer gehende und allgemei¬ nere Verderbtheit einen halbwegs versöhnenden Schleier warfen. Walter Scott berichtet uns, wie eine Großtante ihm erzählt, daß in ihrer Jugend die Romane der frivolen Schriftstellerin Aphra Behn ebenso häufig auf den Toilettentischen der vornehmen Damen zu finden gewesen wie in ihren alten Tagen die Schrif¬ ten der Miß Edgeworth, und er schildert uns mit größter Lebendigkeit das Erstaunen der Matrone, als sie nach langen Jahren aus Neugier die verges¬ senen Blätter überflog, an denen sie sich als Mädchen ergötzt hatte, und nun fand, daß sie in einem Alter von achtzig Sommern nicht mehr ohne Scham für sich allein lesen konnte, was sie sechzig Jahre vorher in großen Zirkeln der besten Gesellschaft Londons laut hatte vorlesen hören. Ganz ungeheuerliche Dimensionen nahm unter den ersten beiden hannover- schen Königen in England die Spiel- und Gründerwuth an. Fast ebenso stark und thöricht wie in unsern Tagen in ganz Europa, ja bisweilen lächerlicher und toller äußerte sich damals das Streben, rasch zu Vermögen zu gelangen, und die Geringachtung langsam und stetig erwerbender ehrlicher Arbeit. Welche wahnwitzige Spekulation und welche Leichtgläubigkeit der sogenannte Südsee- Schwindel enthüllte, ist bekannt. Aber andere Gründungen gleicher Art folgten ihm. Pläne auf Pläne, einer immer abenteuerlicher als der andere, stiegen wie Seifenblasen ans, blendeten und zerplatzten. Gesellschaften zur „Anffischung von Wracks an der Küste Irlands", zur „Versicherung gegen Verluste durch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/158
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/158>, abgerufen am 28.07.2024.