Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

handelt es sich um göttliches und natürliches Recht, so kann kein Sterblicher
von dessen Beobachtung entbinden. Kommt menschliches Recht in Frage, so
ist, da zeitliche Vortheile oder Nachtheile sich daraus ergeben können, die Dis-
Pensation Sache des staatlichen Gesetzgebers.

Nicht anders verhält es sich mit der Exkommunikation. Da sie ungerecht
verhängt werden kann, zeitliche Nachtheile mit sich bringt und eine öffentliche
Beschimpfung ist, so muß der Staat Garantieen haben, daß der Papst sie nicht
unbillig ausspricht. Der bisherige Gebrauch widerspricht überdies Christi Lehre,
denn Christus hat gesagt: "Wenn dein Bruder wider dich gesündigt hat, sage
es der Kirche", und dies ist die gläubige Gemeinde, nicht der Bischof oder der
Presbyter. So darf der Priester den Sünder der Gemeinde anzeigen, wie der
Arzt den Pestkranken. Die Gemeinde entscheidet, und erst nach ihrem Urtheile
wird exkommunizirt.

Will der Papst durch kirchliche Strafen seinen Verordnungen Nachdruck
geben, so muß ihn selbst die härteste Strafe treffen, denn er verletzt frevelnd
die Rechte des Staates. Ueberhaupt ist den Schriften der Priester kein Christ
Gehorsam schuldig, sondern allein der heiligen Schrift, welche die alleinige
Grundlage des Glaubens und der Kirche bildet.

Selbst die Gerichtsbarkeit über die Ketzer muß der Kirche genommen
werden. Fehlten sie gegen ein staatliches Gebot, so mögen sie staatliche Strafe
erleiden. Was die Verletzung eines evangelischen Gebotes betrifft, so mag die
Kognition des Verbrechens dem Priester gehören, die Strafe aber ist Sache
des Richters des Evangeliums, und das ist Christus. "Ueberdies kann gemäß
der Wahrheit und der offenbaren Intention des Apostels und der heiligen
Kirchenväter Niemand in dieser Welt durch eine Strafe, zumal eine von einem
Priester verhängte, gezwungen werden, die Vorschriften des evangelischen Gesetzes
zu befolgen, nicht einmal der Gläubige, geschweige denn der Ungläubige."

Mit solcher Betonung der Glaubens- und Gewissensfreiheit läßt Marsiglio
selbst die Reformationszeit hinter sich zurück. Das Verlangen nach religiöser
Duldsamkeit, ausgesprochen zu einer Zeit, die noch keine Verschiedenheit der
christlichen Religionsgesellschaften kannte, ist wohl der kühnste und stannens-
wertheste seiner Gedanken.

So ist denn der Priester gewissermaßen auf die Thätigkeit eines Seelen¬
arztes beschränkt. "Wie der Leibesarzt aus dem Schatze seiner Erfahrungen
das Volk lehren soll, diese und jene Ursachen künftigen Siechthums zu vermeiden,
wie er die Folgsamen für gesund, die Fehlenden für krank erklären mag und
doch Niemand zum Gesundsein zwingen kann, so muß der Priester sür das
Gesunden der Seele Sorge tragen, und er muß es doch schließlich dem Willen


handelt es sich um göttliches und natürliches Recht, so kann kein Sterblicher
von dessen Beobachtung entbinden. Kommt menschliches Recht in Frage, so
ist, da zeitliche Vortheile oder Nachtheile sich daraus ergeben können, die Dis-
Pensation Sache des staatlichen Gesetzgebers.

Nicht anders verhält es sich mit der Exkommunikation. Da sie ungerecht
verhängt werden kann, zeitliche Nachtheile mit sich bringt und eine öffentliche
Beschimpfung ist, so muß der Staat Garantieen haben, daß der Papst sie nicht
unbillig ausspricht. Der bisherige Gebrauch widerspricht überdies Christi Lehre,
denn Christus hat gesagt: „Wenn dein Bruder wider dich gesündigt hat, sage
es der Kirche", und dies ist die gläubige Gemeinde, nicht der Bischof oder der
Presbyter. So darf der Priester den Sünder der Gemeinde anzeigen, wie der
Arzt den Pestkranken. Die Gemeinde entscheidet, und erst nach ihrem Urtheile
wird exkommunizirt.

Will der Papst durch kirchliche Strafen seinen Verordnungen Nachdruck
geben, so muß ihn selbst die härteste Strafe treffen, denn er verletzt frevelnd
die Rechte des Staates. Ueberhaupt ist den Schriften der Priester kein Christ
Gehorsam schuldig, sondern allein der heiligen Schrift, welche die alleinige
Grundlage des Glaubens und der Kirche bildet.

Selbst die Gerichtsbarkeit über die Ketzer muß der Kirche genommen
werden. Fehlten sie gegen ein staatliches Gebot, so mögen sie staatliche Strafe
erleiden. Was die Verletzung eines evangelischen Gebotes betrifft, so mag die
Kognition des Verbrechens dem Priester gehören, die Strafe aber ist Sache
des Richters des Evangeliums, und das ist Christus. „Ueberdies kann gemäß
der Wahrheit und der offenbaren Intention des Apostels und der heiligen
Kirchenväter Niemand in dieser Welt durch eine Strafe, zumal eine von einem
Priester verhängte, gezwungen werden, die Vorschriften des evangelischen Gesetzes
zu befolgen, nicht einmal der Gläubige, geschweige denn der Ungläubige."

Mit solcher Betonung der Glaubens- und Gewissensfreiheit läßt Marsiglio
selbst die Reformationszeit hinter sich zurück. Das Verlangen nach religiöser
Duldsamkeit, ausgesprochen zu einer Zeit, die noch keine Verschiedenheit der
christlichen Religionsgesellschaften kannte, ist wohl der kühnste und stannens-
wertheste seiner Gedanken.

So ist denn der Priester gewissermaßen auf die Thätigkeit eines Seelen¬
arztes beschränkt. „Wie der Leibesarzt aus dem Schatze seiner Erfahrungen
das Volk lehren soll, diese und jene Ursachen künftigen Siechthums zu vermeiden,
wie er die Folgsamen für gesund, die Fehlenden für krank erklären mag und
doch Niemand zum Gesundsein zwingen kann, so muß der Priester sür das
Gesunden der Seele Sorge tragen, und er muß es doch schließlich dem Willen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0015" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143070"/>
          <p xml:id="ID_44" prev="#ID_43"> handelt es sich um göttliches und natürliches Recht, so kann kein Sterblicher<lb/>
von dessen Beobachtung entbinden. Kommt menschliches Recht in Frage, so<lb/>
ist, da zeitliche Vortheile oder Nachtheile sich daraus ergeben können, die Dis-<lb/>
Pensation Sache des staatlichen Gesetzgebers.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_45"> Nicht anders verhält es sich mit der Exkommunikation. Da sie ungerecht<lb/>
verhängt werden kann, zeitliche Nachtheile mit sich bringt und eine öffentliche<lb/>
Beschimpfung ist, so muß der Staat Garantieen haben, daß der Papst sie nicht<lb/>
unbillig ausspricht. Der bisherige Gebrauch widerspricht überdies Christi Lehre,<lb/>
denn Christus hat gesagt: &#x201E;Wenn dein Bruder wider dich gesündigt hat, sage<lb/>
es der Kirche", und dies ist die gläubige Gemeinde, nicht der Bischof oder der<lb/>
Presbyter. So darf der Priester den Sünder der Gemeinde anzeigen, wie der<lb/>
Arzt den Pestkranken. Die Gemeinde entscheidet, und erst nach ihrem Urtheile<lb/>
wird exkommunizirt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_46"> Will der Papst durch kirchliche Strafen seinen Verordnungen Nachdruck<lb/>
geben, so muß ihn selbst die härteste Strafe treffen, denn er verletzt frevelnd<lb/>
die Rechte des Staates. Ueberhaupt ist den Schriften der Priester kein Christ<lb/>
Gehorsam schuldig, sondern allein der heiligen Schrift, welche die alleinige<lb/>
Grundlage des Glaubens und der Kirche bildet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_47"> Selbst die Gerichtsbarkeit über die Ketzer muß der Kirche genommen<lb/>
werden. Fehlten sie gegen ein staatliches Gebot, so mögen sie staatliche Strafe<lb/>
erleiden. Was die Verletzung eines evangelischen Gebotes betrifft, so mag die<lb/>
Kognition des Verbrechens dem Priester gehören, die Strafe aber ist Sache<lb/>
des Richters des Evangeliums, und das ist Christus. &#x201E;Ueberdies kann gemäß<lb/>
der Wahrheit und der offenbaren Intention des Apostels und der heiligen<lb/>
Kirchenväter Niemand in dieser Welt durch eine Strafe, zumal eine von einem<lb/>
Priester verhängte, gezwungen werden, die Vorschriften des evangelischen Gesetzes<lb/>
zu befolgen, nicht einmal der Gläubige, geschweige denn der Ungläubige."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_48"> Mit solcher Betonung der Glaubens- und Gewissensfreiheit läßt Marsiglio<lb/>
selbst die Reformationszeit hinter sich zurück. Das Verlangen nach religiöser<lb/>
Duldsamkeit, ausgesprochen zu einer Zeit, die noch keine Verschiedenheit der<lb/>
christlichen Religionsgesellschaften kannte, ist wohl der kühnste und stannens-<lb/>
wertheste seiner Gedanken.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_49" next="#ID_50"> So ist denn der Priester gewissermaßen auf die Thätigkeit eines Seelen¬<lb/>
arztes beschränkt. &#x201E;Wie der Leibesarzt aus dem Schatze seiner Erfahrungen<lb/>
das Volk lehren soll, diese und jene Ursachen künftigen Siechthums zu vermeiden,<lb/>
wie er die Folgsamen für gesund, die Fehlenden für krank erklären mag und<lb/>
doch Niemand zum Gesundsein zwingen kann, so muß der Priester sür das<lb/>
Gesunden der Seele Sorge tragen, und er muß es doch schließlich dem Willen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0015] handelt es sich um göttliches und natürliches Recht, so kann kein Sterblicher von dessen Beobachtung entbinden. Kommt menschliches Recht in Frage, so ist, da zeitliche Vortheile oder Nachtheile sich daraus ergeben können, die Dis- Pensation Sache des staatlichen Gesetzgebers. Nicht anders verhält es sich mit der Exkommunikation. Da sie ungerecht verhängt werden kann, zeitliche Nachtheile mit sich bringt und eine öffentliche Beschimpfung ist, so muß der Staat Garantieen haben, daß der Papst sie nicht unbillig ausspricht. Der bisherige Gebrauch widerspricht überdies Christi Lehre, denn Christus hat gesagt: „Wenn dein Bruder wider dich gesündigt hat, sage es der Kirche", und dies ist die gläubige Gemeinde, nicht der Bischof oder der Presbyter. So darf der Priester den Sünder der Gemeinde anzeigen, wie der Arzt den Pestkranken. Die Gemeinde entscheidet, und erst nach ihrem Urtheile wird exkommunizirt. Will der Papst durch kirchliche Strafen seinen Verordnungen Nachdruck geben, so muß ihn selbst die härteste Strafe treffen, denn er verletzt frevelnd die Rechte des Staates. Ueberhaupt ist den Schriften der Priester kein Christ Gehorsam schuldig, sondern allein der heiligen Schrift, welche die alleinige Grundlage des Glaubens und der Kirche bildet. Selbst die Gerichtsbarkeit über die Ketzer muß der Kirche genommen werden. Fehlten sie gegen ein staatliches Gebot, so mögen sie staatliche Strafe erleiden. Was die Verletzung eines evangelischen Gebotes betrifft, so mag die Kognition des Verbrechens dem Priester gehören, die Strafe aber ist Sache des Richters des Evangeliums, und das ist Christus. „Ueberdies kann gemäß der Wahrheit und der offenbaren Intention des Apostels und der heiligen Kirchenväter Niemand in dieser Welt durch eine Strafe, zumal eine von einem Priester verhängte, gezwungen werden, die Vorschriften des evangelischen Gesetzes zu befolgen, nicht einmal der Gläubige, geschweige denn der Ungläubige." Mit solcher Betonung der Glaubens- und Gewissensfreiheit läßt Marsiglio selbst die Reformationszeit hinter sich zurück. Das Verlangen nach religiöser Duldsamkeit, ausgesprochen zu einer Zeit, die noch keine Verschiedenheit der christlichen Religionsgesellschaften kannte, ist wohl der kühnste und stannens- wertheste seiner Gedanken. So ist denn der Priester gewissermaßen auf die Thätigkeit eines Seelen¬ arztes beschränkt. „Wie der Leibesarzt aus dem Schatze seiner Erfahrungen das Volk lehren soll, diese und jene Ursachen künftigen Siechthums zu vermeiden, wie er die Folgsamen für gesund, die Fehlenden für krank erklären mag und doch Niemand zum Gesundsein zwingen kann, so muß der Priester sür das Gesunden der Seele Sorge tragen, und er muß es doch schließlich dem Willen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/15
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/15>, abgerufen am 29.06.2024.