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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Monarchie erscheint als die beste Saatsform, und zwar ist dem reinen Wahl¬
königthum der Vorzug vor einer Wahlmonarchie mit dynastischer Nachfolge
einzuräumen. Der gewählte Fürst ist nur der erste Beamte des Staates. Nicht
er ist die Quelle des Rechts, denn die Gesetzgebung ist Privilegium des Volkes,
der Gemeinschaft aller Bürger, oder, da es kaum möglich ist, daß alle Menschen
eines Sinnes sind, der Majorität. Denn die Gesammtheit oder Majorität der
Bürger muß am besten wissen, was Recht sein soll, sie hat das größte Interesse
am Staate und wird am leichtesten die Mängel eines Gesetzvorschlages entdecken.

Der Fürst ist das vollziehende Werkzeug der gesetzgebenden Gewalt. Er
übt seine Autorität in den Formen, die ihm das Gesetz vorschreibt, und zur
Aufrechthaltung derselben gibt ihm das Volk eine bewaffnete Macht, deren
Stärke es genau bestimmt.

So spricht inmitten einer Zeit der staatlichen Ohnmacht, der privilegirten
Stände, des Feudalismus, des Papalsystems Marsiglio zuerst bestimmt die Idee
der Volkssouveränetät aus. In seinem Geiste entsteht ein Staatsideal, das der
konstitutionellen Monarchie der Neuzeit am nächsten kommt.

Nachdem so die Grundzüge einer Staatsverfassung entworfen sind, kehrt
Marsiglio zum Ausgangspunkte zurück, zu der Frage, wodurch der Friede in
den Staaten gestört werde. Er sieht den Grund in den ungerechtfertigten
Ansprüchen der römischen Bischöfe, die ihre Macht aus der xlsniwäo potsstatis
(Fülle der Gewalt) herleiten, welche durch Christus dem heiligen Petrus und
seinen Nachfolgern verliehen worden sein soll, und welche sie in dem Sinne
auffassen, daß, wie Christus die Fülle der Gewalt und Jurisdiktion über alle
Könige, Fürsten, Kommunen und Privaten gehabt habe, so nun auch sie als
Christi Stellvertreter dieselben besitzen, ohne durch ein menschliches Gesetz
beschränkt zu sein. Dieser Lehre, "welche eine für die menschliche Glückseligkeit
verderbliche Pest ist", entgegenzutreten, erachtet Marsiglio für die Pflicht Aller,
die es vermögen. "Jeder, der Unrecht sieht und es nicht abwehrt, obgleich er
die Mittel zum Widerstande hat, ist ein Mitschuldiger. Ich will diese ver¬
heerende Krankheit von meinen Brüdern abwenden durch meine Lehre, dann
auch, soweit ich es vermag, durch meine Thaten." Wohl kennt er die Schwierig¬
keiten, die seiner Aufgabe sich entgegenstellen; er weiß, daß seine Erörterungen
die Anhänger des Papstes doch nicht überzeugen werden, daß er die Macht
des Vorurtheils und des Neides, der den Muthigen trifft, nicht brechen kann,
und daß der Zorn und heftige Verfolgung von Seiten des römischen Bischofs
ihn treffen muß; aber das alles schreckt ihn nicht. Mit dem Psalmisten ruft
er aus: "Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht, was können mir
Menschen thun?"'

Im zweiten Theile des OstsnLvr xaeis wird über'das Wesen und die


Grenzboten IV. 1879. 2

Monarchie erscheint als die beste Saatsform, und zwar ist dem reinen Wahl¬
königthum der Vorzug vor einer Wahlmonarchie mit dynastischer Nachfolge
einzuräumen. Der gewählte Fürst ist nur der erste Beamte des Staates. Nicht
er ist die Quelle des Rechts, denn die Gesetzgebung ist Privilegium des Volkes,
der Gemeinschaft aller Bürger, oder, da es kaum möglich ist, daß alle Menschen
eines Sinnes sind, der Majorität. Denn die Gesammtheit oder Majorität der
Bürger muß am besten wissen, was Recht sein soll, sie hat das größte Interesse
am Staate und wird am leichtesten die Mängel eines Gesetzvorschlages entdecken.

Der Fürst ist das vollziehende Werkzeug der gesetzgebenden Gewalt. Er
übt seine Autorität in den Formen, die ihm das Gesetz vorschreibt, und zur
Aufrechthaltung derselben gibt ihm das Volk eine bewaffnete Macht, deren
Stärke es genau bestimmt.

So spricht inmitten einer Zeit der staatlichen Ohnmacht, der privilegirten
Stände, des Feudalismus, des Papalsystems Marsiglio zuerst bestimmt die Idee
der Volkssouveränetät aus. In seinem Geiste entsteht ein Staatsideal, das der
konstitutionellen Monarchie der Neuzeit am nächsten kommt.

Nachdem so die Grundzüge einer Staatsverfassung entworfen sind, kehrt
Marsiglio zum Ausgangspunkte zurück, zu der Frage, wodurch der Friede in
den Staaten gestört werde. Er sieht den Grund in den ungerechtfertigten
Ansprüchen der römischen Bischöfe, die ihre Macht aus der xlsniwäo potsstatis
(Fülle der Gewalt) herleiten, welche durch Christus dem heiligen Petrus und
seinen Nachfolgern verliehen worden sein soll, und welche sie in dem Sinne
auffassen, daß, wie Christus die Fülle der Gewalt und Jurisdiktion über alle
Könige, Fürsten, Kommunen und Privaten gehabt habe, so nun auch sie als
Christi Stellvertreter dieselben besitzen, ohne durch ein menschliches Gesetz
beschränkt zu sein. Dieser Lehre, „welche eine für die menschliche Glückseligkeit
verderbliche Pest ist", entgegenzutreten, erachtet Marsiglio für die Pflicht Aller,
die es vermögen. „Jeder, der Unrecht sieht und es nicht abwehrt, obgleich er
die Mittel zum Widerstande hat, ist ein Mitschuldiger. Ich will diese ver¬
heerende Krankheit von meinen Brüdern abwenden durch meine Lehre, dann
auch, soweit ich es vermag, durch meine Thaten." Wohl kennt er die Schwierig¬
keiten, die seiner Aufgabe sich entgegenstellen; er weiß, daß seine Erörterungen
die Anhänger des Papstes doch nicht überzeugen werden, daß er die Macht
des Vorurtheils und des Neides, der den Muthigen trifft, nicht brechen kann,
und daß der Zorn und heftige Verfolgung von Seiten des römischen Bischofs
ihn treffen muß; aber das alles schreckt ihn nicht. Mit dem Psalmisten ruft
er aus: „Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht, was können mir
Menschen thun?"'

Im zweiten Theile des OstsnLvr xaeis wird über'das Wesen und die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/13>, abgerufen am 01.10.2024.