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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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und möge es noch lange bleiben, da die guten Deutschen keinen Spaß verstehen
und Alles gleich für baaren Ernst nehmen, was auch nur ein Infus Inxgmi
ist." Obgleich das Gedicht die größte Verwandtschaft mit den "Römischen Ele¬
gien" hat, die es allerdings in einem Punkte weit hinter sich läßt, so kann
doch über seine wesentlich spätere Entstehung kein Zweifel sein; trotz allen
Zaubers der Sprache erinnert mehr als eine Stelle an die seltsam nachlässigen
und nebulistischen Satzkonstrnktionen der Teplitzer Balladen (Die wandelnde Glocke,
Der getreue Eckart, Der Todtentanz).

Außer Riemer kannte auch Eckermann das Gedicht. Das Gespräch, das
er mit Goethe darüber geführt hat, ist in mehrfacher Hinsicht zu wichtig, als
daß wir es hier nicht vollständig mittheilen sollten. Eckermann schreibt unterm
25. Februar 1824: "Goethe zeigte mir heute zwei recht merkwürdige Gedichte,
beide in hohem Grade sittlich in ihrer Tendenz, in einzelnen Motiven
jedoch so ohne allen Rückhalt natürlich und wahr, daß die Welt dergleichen
unsittlich zu nennen pflegt, weshalb er sie denn auch geheim hielt und an eine
öffentliche Mittheilung nicht dachte. Könnten Geist und höhere Bildung/
sagte er, ,ein Gemeingut werden, so hätte der Dichter ein gutes Spiel, er
könnte immer durchaus wahr sein und brauchte sich nicht zu schämen, das Beste
zu sagen. So aber muß er sich immer in einem gewissen Niveau halten; er
hat zu bedenken, daß seine Werke in die Hände einer gemischten Welt
kommen, und er hat daher Ursache sich in Acht zu nehmen, daß er der Mehr¬
zahl guter Menschen durch eine zu große Offenheit kein Aergerniß gebe. Und
dann ist die Zeit ein wunderlich Ding. Sie ist ein Tyrann, der seine Launen
hat, und die zu dem, was einer sagt und thut, in jedem Jahrhundert ein ander
Gesicht macht. Was den alten Griechen zu sagen erlaubt war, will uns zu
sagen nicht mehr anstehen, und was Shakespeare's kräftigen Mitmenschen durch¬
aus anmuthete, kann der Engländer von 1820 nicht mehr vertragen, so daß in
der neuesten Zeit ein Mai1/-8Inn(ö8x6Ar<z ein gefühltes Bedürfniß wird/
Auch liegt sehr vieles in der Form, fügte ich hinzu. Das eine jener beiden
Gedichte, in dem Ton und Versmaß der Alten, hat weit weniger Zurückstoßen¬
des ... Das "andere Gedicht dagegen, in dem Ton und der Versart von
Meister Ariost, ist weit verfänglicher. Es behandelt ein Abenteuer von heute,
in der Sprache von heute, und, indem es dadurch ohne alle Umhüllung ganz
in unsere Gegenwart hereintritt, erscheinen die einzelnen Kühnheiten bei weitem
verwegner. ,Sie haben Recht/ sagte Goethe, ,es liegen in den verschiedenen
poetischen Formen geheimnißvoll große Wirkungen. Wenn man den Inhalt
meiner Römischen Elegien in den Ton und die Versart von Byron's Don Juan
übertragen wollte, so müßte sich das Gesagte ganz verrucht aufnehmen/

Eckermann hat vollständig Recht: Das Gedicht ist "in hohem Grade sitt-


und möge es noch lange bleiben, da die guten Deutschen keinen Spaß verstehen
und Alles gleich für baaren Ernst nehmen, was auch nur ein Infus Inxgmi
ist." Obgleich das Gedicht die größte Verwandtschaft mit den „Römischen Ele¬
gien" hat, die es allerdings in einem Punkte weit hinter sich läßt, so kann
doch über seine wesentlich spätere Entstehung kein Zweifel sein; trotz allen
Zaubers der Sprache erinnert mehr als eine Stelle an die seltsam nachlässigen
und nebulistischen Satzkonstrnktionen der Teplitzer Balladen (Die wandelnde Glocke,
Der getreue Eckart, Der Todtentanz).

Außer Riemer kannte auch Eckermann das Gedicht. Das Gespräch, das
er mit Goethe darüber geführt hat, ist in mehrfacher Hinsicht zu wichtig, als
daß wir es hier nicht vollständig mittheilen sollten. Eckermann schreibt unterm
25. Februar 1824: „Goethe zeigte mir heute zwei recht merkwürdige Gedichte,
beide in hohem Grade sittlich in ihrer Tendenz, in einzelnen Motiven
jedoch so ohne allen Rückhalt natürlich und wahr, daß die Welt dergleichen
unsittlich zu nennen pflegt, weshalb er sie denn auch geheim hielt und an eine
öffentliche Mittheilung nicht dachte. Könnten Geist und höhere Bildung/
sagte er, ,ein Gemeingut werden, so hätte der Dichter ein gutes Spiel, er
könnte immer durchaus wahr sein und brauchte sich nicht zu schämen, das Beste
zu sagen. So aber muß er sich immer in einem gewissen Niveau halten; er
hat zu bedenken, daß seine Werke in die Hände einer gemischten Welt
kommen, und er hat daher Ursache sich in Acht zu nehmen, daß er der Mehr¬
zahl guter Menschen durch eine zu große Offenheit kein Aergerniß gebe. Und
dann ist die Zeit ein wunderlich Ding. Sie ist ein Tyrann, der seine Launen
hat, und die zu dem, was einer sagt und thut, in jedem Jahrhundert ein ander
Gesicht macht. Was den alten Griechen zu sagen erlaubt war, will uns zu
sagen nicht mehr anstehen, und was Shakespeare's kräftigen Mitmenschen durch¬
aus anmuthete, kann der Engländer von 1820 nicht mehr vertragen, so daß in
der neuesten Zeit ein Mai1/-8Inn(ö8x6Ar<z ein gefühltes Bedürfniß wird/
Auch liegt sehr vieles in der Form, fügte ich hinzu. Das eine jener beiden
Gedichte, in dem Ton und Versmaß der Alten, hat weit weniger Zurückstoßen¬
des ... Das «andere Gedicht dagegen, in dem Ton und der Versart von
Meister Ariost, ist weit verfänglicher. Es behandelt ein Abenteuer von heute,
in der Sprache von heute, und, indem es dadurch ohne alle Umhüllung ganz
in unsere Gegenwart hereintritt, erscheinen die einzelnen Kühnheiten bei weitem
verwegner. ,Sie haben Recht/ sagte Goethe, ,es liegen in den verschiedenen
poetischen Formen geheimnißvoll große Wirkungen. Wenn man den Inhalt
meiner Römischen Elegien in den Ton und die Versart von Byron's Don Juan
übertragen wollte, so müßte sich das Gesagte ganz verrucht aufnehmen/

Eckermann hat vollständig Recht: Das Gedicht ist „in hohem Grade sitt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/111>, abgerufen am 03.07.2024.