Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

lich in seiner Tendenz". Auch Riemer hebt dies ausdrücklich hervor. Aber
der wievielte von den tausend Lesern, denen es jetzt in die Hände kommen wird,
wird darnach fragen? Die große Masse hält sich an die dargestellte Szene, und
diese überbietet an echt antiker Freiheit und Unbefangenheit der Aussprache das
Kühnste derart, was Goethe in seinen "Römischen Elegien" geschrieben. Zwar hat
der Dichter einen Adel, einen Ernst, eine Hoheit darüber ausgebreitet, die jede niedere
Regung fernhalten müßten. Nicht Lupanariendunst, sondern der kräftige Frühlings-
hauch des homerischen scheint aus der Dichtung uns entgegenzuwehen,
und alle verwegene Blöße des Gedankens hüllen die unvergleichlich schönen
Strophen in ihre breiten, prächtigen Falten ein. Aber der wievielte von Tausenden,
fragen wir abermals, ist befähigt, mit solch lauterem aesthetischen Behagen die
Dichtung hinzunehmen? Von dem Geiste classischer Bildung durchdrungen zu
sein, das wäre die mindeste Forderung, die der erfüllen müßte, der dies Gedicht
den Intentionen des Dichters gemäß auffassen und genießen wollte. Aber wie
viele selbst von denen, die durch unsre Gymnasien und Universitäten 'gelaufen,
werden dem Gedichte ohne alle banausische Gesinnung gegenüberstehen und wirk¬
lich noch etwas mehr darin finden als die bare Cochonnerie? Das aber eben
ist das Aergerniß bei diesen Seperat-Publikationen^ daß offenbar auf die
große Majorität der Leser von der letzten Sorte dabei spekulirt ist. Oder
glaube" etwa die Herausgeber, daß "Geist und höhere Bildung" jetzt in höherem
Grade "Gemeingut", daß die Welt heute weniger "gemischt" sei als 1824,
wo Goethe seine ernsten Bedenken gegen die Verbreitung der Dichtung äußerte?
Dem Reinen ist ja alles rein, aber dem Gemeinen ist anch alles gemein.
Goethes Gedicht glänzt so rein wieder Thautropfen. Aber wie der Thautropfen
"im Schmuze selbst zu Schmuz wird", wie aus dem Becher Edles und
Gemeines sprudelt, "nach dem eignen Werth des Zechers", so wird auch
dies Gedicht gemein, sowie es in gemeine Hände kommt. Und dafür haben
jene beiden Buchhandlungen redlich gesorgt. Sie haben durch ihre unfeine
Spekulativ", durch die Veranstaltung ihrer höchst unerwünschten
Separatausgaben, eines der herrlichsten Goethischen Gedichte herabge¬
würdigt auf die Stufe der Weinstuben- und Commisvoyageur-Literatur, auf
die Stufe jener "Pikantissima", die sich Woche für Woche in den Spalten des
Beiblattes zum Kladderadatsch herumtreiben. Sie haben die Dichtung in die
Hände von Leuten gespielt, die ein Schillersches Drama nicht von einem
Goethischen zu unterscheiden wissen, und für die nun dies Gedicht, in der er¬
bärmlichen Auffassung, deren sie fähig sind, den Inbegriff von Goethe bilden
wird. Das ist, wie das französische Paradoxon sagt, nicht blos ein Vergehen
gegen die Sittlichkeit, es ist sogar eine Sünde wider den guten Geschmack, es
ist ein Frevel an Goethe.


lich in seiner Tendenz". Auch Riemer hebt dies ausdrücklich hervor. Aber
der wievielte von den tausend Lesern, denen es jetzt in die Hände kommen wird,
wird darnach fragen? Die große Masse hält sich an die dargestellte Szene, und
diese überbietet an echt antiker Freiheit und Unbefangenheit der Aussprache das
Kühnste derart, was Goethe in seinen „Römischen Elegien" geschrieben. Zwar hat
der Dichter einen Adel, einen Ernst, eine Hoheit darüber ausgebreitet, die jede niedere
Regung fernhalten müßten. Nicht Lupanariendunst, sondern der kräftige Frühlings-
hauch des homerischen scheint aus der Dichtung uns entgegenzuwehen,
und alle verwegene Blöße des Gedankens hüllen die unvergleichlich schönen
Strophen in ihre breiten, prächtigen Falten ein. Aber der wievielte von Tausenden,
fragen wir abermals, ist befähigt, mit solch lauterem aesthetischen Behagen die
Dichtung hinzunehmen? Von dem Geiste classischer Bildung durchdrungen zu
sein, das wäre die mindeste Forderung, die der erfüllen müßte, der dies Gedicht
den Intentionen des Dichters gemäß auffassen und genießen wollte. Aber wie
viele selbst von denen, die durch unsre Gymnasien und Universitäten 'gelaufen,
werden dem Gedichte ohne alle banausische Gesinnung gegenüberstehen und wirk¬
lich noch etwas mehr darin finden als die bare Cochonnerie? Das aber eben
ist das Aergerniß bei diesen Seperat-Publikationen^ daß offenbar auf die
große Majorität der Leser von der letzten Sorte dabei spekulirt ist. Oder
glaube» etwa die Herausgeber, daß „Geist und höhere Bildung" jetzt in höherem
Grade „Gemeingut", daß die Welt heute weniger „gemischt" sei als 1824,
wo Goethe seine ernsten Bedenken gegen die Verbreitung der Dichtung äußerte?
Dem Reinen ist ja alles rein, aber dem Gemeinen ist anch alles gemein.
Goethes Gedicht glänzt so rein wieder Thautropfen. Aber wie der Thautropfen
„im Schmuze selbst zu Schmuz wird", wie aus dem Becher Edles und
Gemeines sprudelt, „nach dem eignen Werth des Zechers", so wird auch
dies Gedicht gemein, sowie es in gemeine Hände kommt. Und dafür haben
jene beiden Buchhandlungen redlich gesorgt. Sie haben durch ihre unfeine
Spekulativ», durch die Veranstaltung ihrer höchst unerwünschten
Separatausgaben, eines der herrlichsten Goethischen Gedichte herabge¬
würdigt auf die Stufe der Weinstuben- und Commisvoyageur-Literatur, auf
die Stufe jener „Pikantissima", die sich Woche für Woche in den Spalten des
Beiblattes zum Kladderadatsch herumtreiben. Sie haben die Dichtung in die
Hände von Leuten gespielt, die ein Schillersches Drama nicht von einem
Goethischen zu unterscheiden wissen, und für die nun dies Gedicht, in der er¬
bärmlichen Auffassung, deren sie fähig sind, den Inbegriff von Goethe bilden
wird. Das ist, wie das französische Paradoxon sagt, nicht blos ein Vergehen
gegen die Sittlichkeit, es ist sogar eine Sünde wider den guten Geschmack, es
ist ein Frevel an Goethe.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0112" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143167"/>
          <p xml:id="ID_357" prev="#ID_356"> lich in seiner Tendenz". Auch Riemer hebt dies ausdrücklich hervor. Aber<lb/>
der wievielte von den tausend Lesern, denen es jetzt in die Hände kommen wird,<lb/>
wird darnach fragen? Die große Masse hält sich an die dargestellte Szene, und<lb/>
diese überbietet an echt antiker Freiheit und Unbefangenheit der Aussprache das<lb/>
Kühnste derart, was Goethe in seinen &#x201E;Römischen Elegien" geschrieben. Zwar hat<lb/>
der Dichter einen Adel, einen Ernst, eine Hoheit darüber ausgebreitet, die jede niedere<lb/>
Regung fernhalten müßten. Nicht Lupanariendunst, sondern der kräftige Frühlings-<lb/>
hauch des homerischen scheint aus der Dichtung uns entgegenzuwehen,<lb/>
und alle verwegene Blöße des Gedankens hüllen die unvergleichlich schönen<lb/>
Strophen in ihre breiten, prächtigen Falten ein. Aber der wievielte von Tausenden,<lb/>
fragen wir abermals, ist befähigt, mit solch lauterem aesthetischen Behagen die<lb/>
Dichtung hinzunehmen? Von dem Geiste classischer Bildung durchdrungen zu<lb/>
sein, das wäre die mindeste Forderung, die der erfüllen müßte, der dies Gedicht<lb/>
den Intentionen des Dichters gemäß auffassen und genießen wollte. Aber wie<lb/>
viele selbst von denen, die durch unsre Gymnasien und Universitäten 'gelaufen,<lb/>
werden dem Gedichte ohne alle banausische Gesinnung gegenüberstehen und wirk¬<lb/>
lich noch etwas mehr darin finden als die bare Cochonnerie? Das aber eben<lb/>
ist das Aergerniß bei diesen Seperat-Publikationen^ daß offenbar auf die<lb/>
große Majorität der Leser von der letzten Sorte dabei spekulirt ist. Oder<lb/>
glaube» etwa die Herausgeber, daß &#x201E;Geist und höhere Bildung" jetzt in höherem<lb/>
Grade &#x201E;Gemeingut", daß die Welt heute weniger &#x201E;gemischt" sei als 1824,<lb/>
wo Goethe seine ernsten Bedenken gegen die Verbreitung der Dichtung äußerte?<lb/>
Dem Reinen ist ja alles rein, aber dem Gemeinen ist anch alles gemein.<lb/>
Goethes Gedicht glänzt so rein wieder Thautropfen. Aber wie der Thautropfen<lb/>
&#x201E;im Schmuze selbst zu Schmuz wird", wie aus dem Becher Edles und<lb/>
Gemeines sprudelt, &#x201E;nach dem eignen Werth des Zechers", so wird auch<lb/>
dies Gedicht gemein, sowie es in gemeine Hände kommt. Und dafür haben<lb/>
jene beiden Buchhandlungen redlich gesorgt. Sie haben durch ihre unfeine<lb/>
Spekulativ», durch die Veranstaltung ihrer höchst unerwünschten<lb/>
Separatausgaben, eines der herrlichsten Goethischen Gedichte herabge¬<lb/>
würdigt auf die Stufe der Weinstuben- und Commisvoyageur-Literatur, auf<lb/>
die Stufe jener &#x201E;Pikantissima", die sich Woche für Woche in den Spalten des<lb/>
Beiblattes zum Kladderadatsch herumtreiben. Sie haben die Dichtung in die<lb/>
Hände von Leuten gespielt, die ein Schillersches Drama nicht von einem<lb/>
Goethischen zu unterscheiden wissen, und für die nun dies Gedicht, in der er¬<lb/>
bärmlichen Auffassung, deren sie fähig sind, den Inbegriff von Goethe bilden<lb/>
wird. Das ist, wie das französische Paradoxon sagt, nicht blos ein Vergehen<lb/>
gegen die Sittlichkeit, es ist sogar eine Sünde wider den guten Geschmack, es<lb/>
ist ein Frevel an Goethe.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0112] lich in seiner Tendenz". Auch Riemer hebt dies ausdrücklich hervor. Aber der wievielte von den tausend Lesern, denen es jetzt in die Hände kommen wird, wird darnach fragen? Die große Masse hält sich an die dargestellte Szene, und diese überbietet an echt antiker Freiheit und Unbefangenheit der Aussprache das Kühnste derart, was Goethe in seinen „Römischen Elegien" geschrieben. Zwar hat der Dichter einen Adel, einen Ernst, eine Hoheit darüber ausgebreitet, die jede niedere Regung fernhalten müßten. Nicht Lupanariendunst, sondern der kräftige Frühlings- hauch des homerischen scheint aus der Dichtung uns entgegenzuwehen, und alle verwegene Blöße des Gedankens hüllen die unvergleichlich schönen Strophen in ihre breiten, prächtigen Falten ein. Aber der wievielte von Tausenden, fragen wir abermals, ist befähigt, mit solch lauterem aesthetischen Behagen die Dichtung hinzunehmen? Von dem Geiste classischer Bildung durchdrungen zu sein, das wäre die mindeste Forderung, die der erfüllen müßte, der dies Gedicht den Intentionen des Dichters gemäß auffassen und genießen wollte. Aber wie viele selbst von denen, die durch unsre Gymnasien und Universitäten 'gelaufen, werden dem Gedichte ohne alle banausische Gesinnung gegenüberstehen und wirk¬ lich noch etwas mehr darin finden als die bare Cochonnerie? Das aber eben ist das Aergerniß bei diesen Seperat-Publikationen^ daß offenbar auf die große Majorität der Leser von der letzten Sorte dabei spekulirt ist. Oder glaube» etwa die Herausgeber, daß „Geist und höhere Bildung" jetzt in höherem Grade „Gemeingut", daß die Welt heute weniger „gemischt" sei als 1824, wo Goethe seine ernsten Bedenken gegen die Verbreitung der Dichtung äußerte? Dem Reinen ist ja alles rein, aber dem Gemeinen ist anch alles gemein. Goethes Gedicht glänzt so rein wieder Thautropfen. Aber wie der Thautropfen „im Schmuze selbst zu Schmuz wird", wie aus dem Becher Edles und Gemeines sprudelt, „nach dem eignen Werth des Zechers", so wird auch dies Gedicht gemein, sowie es in gemeine Hände kommt. Und dafür haben jene beiden Buchhandlungen redlich gesorgt. Sie haben durch ihre unfeine Spekulativ», durch die Veranstaltung ihrer höchst unerwünschten Separatausgaben, eines der herrlichsten Goethischen Gedichte herabge¬ würdigt auf die Stufe der Weinstuben- und Commisvoyageur-Literatur, auf die Stufe jener „Pikantissima", die sich Woche für Woche in den Spalten des Beiblattes zum Kladderadatsch herumtreiben. Sie haben die Dichtung in die Hände von Leuten gespielt, die ein Schillersches Drama nicht von einem Goethischen zu unterscheiden wissen, und für die nun dies Gedicht, in der er¬ bärmlichen Auffassung, deren sie fähig sind, den Inbegriff von Goethe bilden wird. Das ist, wie das französische Paradoxon sagt, nicht blos ein Vergehen gegen die Sittlichkeit, es ist sogar eine Sünde wider den guten Geschmack, es ist ein Frevel an Goethe.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/112
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/112>, abgerufen am 03.07.2024.