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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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dem übersichtlichen Standpunkte des Zurückschauenden aus ihre langsame Ge¬
staltung sich hineinzwängen läßt; ein fest.'vorbezeichnetes und vorberechnetes Prinzip
aber, nach dem ein Staatswesen erst sich entwickeln soll, unabhängig von allen
unberechenbaren Zufälligkeiten und frei von den dadurch bedingten Modifikationen,
gibt es nicht, hat es nie gegeben. Genau zugesehen aber liegt heute die Be¬
gründung für die laute Verkündigung vom Hereinbruche der Reaktion absolut in
nichts anderen als darin, daß die deutsche Reichsregierung, oder präziser ausgedrückt
der deutsche Reichskanzler, namentlich auf wirthschaftlichem Gebiete einen andern
Weg eingeschlagen hat, als die bisherigen Führer der liberalen Reichtagsmehrheit
dem deutschen Reiche nach ihrem Doktrinarismus vorgezeichnet hatten, als sie
von ihrem semitisch-kosmopolitisch-manchesterlichen Standpunkte aus für allein
richtig und heilsam hielten. Die Führer, nicht die Mehrheit, nicht die Partei!
Denn das ist eben das Unglück, daß in der liberalen Partei ein Regime ein¬
gerissen, das nichts weniger als konstitutionell oder gar liberal ist, das vielmehr
der absolutesten Paschawirthschaft ähnlich sieht. Unsere Volkstribunen haben
sich so daran gewohnt, sich als die Sprecher der Masse anzusehen, daß sie nach
und nach dadurch zu dem Glauben gekommen sind, daß sie auch allein die Gefühle
und Gedanken der Masse unseres Volkes zum Ausdruck bringen, oder gar, daß die
Masse nur ihnen nachfühle und nachdenke, und sie allein in dem Besitze des
Steines der Weisen seien. Hierzu aber ist die Berechtigung noch schwächer als
zu jenem vorerwähnten Mißtrauen. Das ist gerade die Ironie in der Geschichte
der jüngsten Vergangenheit, daß das Größte und Herrlichste, was uns die letzten
beiden Jahrzehnte gebracht, die Kräftigung und Einigung Deutschland's, von
demselben Manne, der noch heute an der Spitze des Deutschen Reiches steht,
gegen den Willen fast derselben Männer incmgurirt worden ist, die ihm auch
heute wieder als Gegner gegenüberstehen, wo er fein großes Werk zu vervoll¬
ständigen bemüht ist und der politischen Reform auch die wirthschaftliche an
die Seite zu stellen sucht; auch heute wird er hierfür mit nicht geringerer Hef¬
tigkeit angeklagt als damals, daß er die Rechte des Volkes zerstöre. Freilich
ist das Deutsche Reich so wohnlich nicht geworden, wie man es bei seiner Neu¬
begründung träumte; daran ist aber nicht ein legislativer Mangel von Seiten
der Regierung, sondern allein das Sichüberstürzen und das Ueberwiegen des
Niederreißens vor dem Aufbauen schuld. Wenn aber die aus den Erfahrungen
der Vergangenheit resultirende Weisheit und Mäßigung die Baumeisterin der
Staaten sein sollte, so wird man nicht lange zu untersuchen brauchen, um zu
sehen, auf welcher Seite der Legislative dieselbe am wenigsten zu treffen gewesen
ist. Das weiß und fühlt man auch im Volke.

Aber die Führer der liberalen Partei, die sich heute noch geriren wie ehe¬
mals, als seien ihre Anschauungen der Ausdruck derjenigen des gesummten


dem übersichtlichen Standpunkte des Zurückschauenden aus ihre langsame Ge¬
staltung sich hineinzwängen läßt; ein fest.'vorbezeichnetes und vorberechnetes Prinzip
aber, nach dem ein Staatswesen erst sich entwickeln soll, unabhängig von allen
unberechenbaren Zufälligkeiten und frei von den dadurch bedingten Modifikationen,
gibt es nicht, hat es nie gegeben. Genau zugesehen aber liegt heute die Be¬
gründung für die laute Verkündigung vom Hereinbruche der Reaktion absolut in
nichts anderen als darin, daß die deutsche Reichsregierung, oder präziser ausgedrückt
der deutsche Reichskanzler, namentlich auf wirthschaftlichem Gebiete einen andern
Weg eingeschlagen hat, als die bisherigen Führer der liberalen Reichtagsmehrheit
dem deutschen Reiche nach ihrem Doktrinarismus vorgezeichnet hatten, als sie
von ihrem semitisch-kosmopolitisch-manchesterlichen Standpunkte aus für allein
richtig und heilsam hielten. Die Führer, nicht die Mehrheit, nicht die Partei!
Denn das ist eben das Unglück, daß in der liberalen Partei ein Regime ein¬
gerissen, das nichts weniger als konstitutionell oder gar liberal ist, das vielmehr
der absolutesten Paschawirthschaft ähnlich sieht. Unsere Volkstribunen haben
sich so daran gewohnt, sich als die Sprecher der Masse anzusehen, daß sie nach
und nach dadurch zu dem Glauben gekommen sind, daß sie auch allein die Gefühle
und Gedanken der Masse unseres Volkes zum Ausdruck bringen, oder gar, daß die
Masse nur ihnen nachfühle und nachdenke, und sie allein in dem Besitze des
Steines der Weisen seien. Hierzu aber ist die Berechtigung noch schwächer als
zu jenem vorerwähnten Mißtrauen. Das ist gerade die Ironie in der Geschichte
der jüngsten Vergangenheit, daß das Größte und Herrlichste, was uns die letzten
beiden Jahrzehnte gebracht, die Kräftigung und Einigung Deutschland's, von
demselben Manne, der noch heute an der Spitze des Deutschen Reiches steht,
gegen den Willen fast derselben Männer incmgurirt worden ist, die ihm auch
heute wieder als Gegner gegenüberstehen, wo er fein großes Werk zu vervoll¬
ständigen bemüht ist und der politischen Reform auch die wirthschaftliche an
die Seite zu stellen sucht; auch heute wird er hierfür mit nicht geringerer Hef¬
tigkeit angeklagt als damals, daß er die Rechte des Volkes zerstöre. Freilich
ist das Deutsche Reich so wohnlich nicht geworden, wie man es bei seiner Neu¬
begründung träumte; daran ist aber nicht ein legislativer Mangel von Seiten
der Regierung, sondern allein das Sichüberstürzen und das Ueberwiegen des
Niederreißens vor dem Aufbauen schuld. Wenn aber die aus den Erfahrungen
der Vergangenheit resultirende Weisheit und Mäßigung die Baumeisterin der
Staaten sein sollte, so wird man nicht lange zu untersuchen brauchen, um zu
sehen, auf welcher Seite der Legislative dieselbe am wenigsten zu treffen gewesen
ist. Das weiß und fühlt man auch im Volke.

Aber die Führer der liberalen Partei, die sich heute noch geriren wie ehe¬
mals, als seien ihre Anschauungen der Ausdruck derjenigen des gesummten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/57>, abgerufen am 01.09.2024.