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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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unter den einen ihrer Gegner, während die anderen tastend umherspüren, nach
welchem der schwer errungenen freiheitlichen Güter sie zuerst die begehrliche
Hand ausstrecken sollen.

Aber man frage sich doch nur: die Regierung, die Deutschland zur Ein¬
heit geführt, deren starke Hand es zu machtvoller Stellung emporgehoben,
unter deren Initiative seine Verfassung freiheitlich ausgebaut, sein politisches
und kommunales Leben dem Drucke staatlicher Bevormundung enthoben, der
Verwaltung seiner staatlichen und gemeindlichen Angelegenheiten freiere Bewegung
und Selbständigkeit gegeben worden ist, diese Regierung sollte sich jetzt mit
einem Male an die Spitze einer rückgängiger Bewegung gestellt haben, um
dem Volke all' die schwer errungenen kostbaren Güter wieder zu verkümmern?
Und das Volk, das diese Freiheiten so heiß ersehnte, das unermüdlich danach
gerungen und tausend schwere Opfer dafür gebracht, ist es derselben schon so
müde nach kurzem und unerquicklichen Besitz, daß ein "konservativer Hauch"
sie allesammt ihm sollte entführen können, wie der Sturmwind Spreu davon-
fegt? Weil ein Mißtrauen gegen den Bestand des Erkämpften begründet
erscheint durch die früheren Erlebnisse unsres Volkes, ist es darum wirklich
schon für die Gegenwart berechtigt?

Nein, und dreimal nein! Wie schon der Einzelne innerlich stark genug
sein müßte, um jenem Mißtrauen und der daraus erwachsenden trüben Stim¬
mung nicht Gewalt über sich einzuräumen, seine Thatkraft nicht durch jene
sich anhängenden Bleigewichte zu lahmen, so haben noch vielmehr die Völker
die Pflicht, sich nicht durch blinden Lärm einschüchtern zu lassen, sondern wohl
darüber zu wachen, daß nicht die Furcht vor Unglück das Unglück selbst herauf¬
beschwöre. Vor allem aber sollte die öffentliche Wächterin, die Presse, mit
ängstlicher Sorgfalt die Zeitlage erst prüfen, ehe sie ihre unheilverkündende
Stimme so lant, wie es gegenwärtig geschieht, erhebt. Voll und freudig sollte
sie sich vielmehr auf den Boden der Gegenwart stellen, anstatt durch die Geister
trüber Vergangenheit sich zu hoffnungslosen Pessimismus locken zu lassen; sie
sollte auch da aus der Geschichte lernen, wo sie Vertrauen erweckt, anstatt mit
Hintansetzung aller Erfahrungen überall Verrath an den Volksrechten zu wittern,
wo die politische Weiterentwickelung einmal sich anders gestaltet, als sie nach
ihrem Plane sich gestalten sollte. Gerade die Erfahrungen der letzten beiden
Jahrzehnte sind in hohem Grade geeignet, die trüben Erlebnisse früherer Zeit¬
abschnitte zu verwischen, dem Volke Vertrauen einzuflößen, auch da, wo die
konstitutionelle und wirthschaftliche Weiterentwickelung unsres Staatswesens
einen andren Gang nimmt, als unsere Tribunen ihm vorzeichnen wollen.
Wohl gibt es konstitutionelle und wirthschaftliche Systeme, nach denen sich die
Staatenwesen der Vergangenheit "gehörig klassifiziren", und in die sogar von


unter den einen ihrer Gegner, während die anderen tastend umherspüren, nach
welchem der schwer errungenen freiheitlichen Güter sie zuerst die begehrliche
Hand ausstrecken sollen.

Aber man frage sich doch nur: die Regierung, die Deutschland zur Ein¬
heit geführt, deren starke Hand es zu machtvoller Stellung emporgehoben,
unter deren Initiative seine Verfassung freiheitlich ausgebaut, sein politisches
und kommunales Leben dem Drucke staatlicher Bevormundung enthoben, der
Verwaltung seiner staatlichen und gemeindlichen Angelegenheiten freiere Bewegung
und Selbständigkeit gegeben worden ist, diese Regierung sollte sich jetzt mit
einem Male an die Spitze einer rückgängiger Bewegung gestellt haben, um
dem Volke all' die schwer errungenen kostbaren Güter wieder zu verkümmern?
Und das Volk, das diese Freiheiten so heiß ersehnte, das unermüdlich danach
gerungen und tausend schwere Opfer dafür gebracht, ist es derselben schon so
müde nach kurzem und unerquicklichen Besitz, daß ein „konservativer Hauch"
sie allesammt ihm sollte entführen können, wie der Sturmwind Spreu davon-
fegt? Weil ein Mißtrauen gegen den Bestand des Erkämpften begründet
erscheint durch die früheren Erlebnisse unsres Volkes, ist es darum wirklich
schon für die Gegenwart berechtigt?

Nein, und dreimal nein! Wie schon der Einzelne innerlich stark genug
sein müßte, um jenem Mißtrauen und der daraus erwachsenden trüben Stim¬
mung nicht Gewalt über sich einzuräumen, seine Thatkraft nicht durch jene
sich anhängenden Bleigewichte zu lahmen, so haben noch vielmehr die Völker
die Pflicht, sich nicht durch blinden Lärm einschüchtern zu lassen, sondern wohl
darüber zu wachen, daß nicht die Furcht vor Unglück das Unglück selbst herauf¬
beschwöre. Vor allem aber sollte die öffentliche Wächterin, die Presse, mit
ängstlicher Sorgfalt die Zeitlage erst prüfen, ehe sie ihre unheilverkündende
Stimme so lant, wie es gegenwärtig geschieht, erhebt. Voll und freudig sollte
sie sich vielmehr auf den Boden der Gegenwart stellen, anstatt durch die Geister
trüber Vergangenheit sich zu hoffnungslosen Pessimismus locken zu lassen; sie
sollte auch da aus der Geschichte lernen, wo sie Vertrauen erweckt, anstatt mit
Hintansetzung aller Erfahrungen überall Verrath an den Volksrechten zu wittern,
wo die politische Weiterentwickelung einmal sich anders gestaltet, als sie nach
ihrem Plane sich gestalten sollte. Gerade die Erfahrungen der letzten beiden
Jahrzehnte sind in hohem Grade geeignet, die trüben Erlebnisse früherer Zeit¬
abschnitte zu verwischen, dem Volke Vertrauen einzuflößen, auch da, wo die
konstitutionelle und wirthschaftliche Weiterentwickelung unsres Staatswesens
einen andren Gang nimmt, als unsere Tribunen ihm vorzeichnen wollen.
Wohl gibt es konstitutionelle und wirthschaftliche Systeme, nach denen sich die
Staatenwesen der Vergangenheit „gehörig klassifiziren", und in die sogar von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/56>, abgerufen am 01.09.2024.