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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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leben, indem sie es lernte, von dem eng eingehegten Ort aus, an den sie ge¬
bunden war, mit weitem Herzen die ganze Welt zu umfassen. "Es ist wohl
eine Selbsttäuschung," schreibt sie, "daß ich wähne, die Grenzen meiner Berufs-
pflicht seien sür mich so eng umschließend wie die vier Mauern meines Hospitals.
Nur Eins ist größer als unser Herz: Gott auf dem lichten Himmelsthron;
mithin vermag unser Herz die fernsten Grenzen der Erde zu umschließen, und
wie viel mehr muß daher das Herz einer Barmherzigen Schwester Alle und
Alle umfassen -- das Ferne muß ihr nah sein -- die Höhe des Glückes und
die Tiefe des Leidens ihrer Mitmenschen muß immer mit mächtigem Schlag
das Saitenspiel ihres Herzens berühren -- der Andern Leid und Freud muß
das ihrige werden -- ja auch da, wo das Heiligthum ihres Innern, die Lehre
des Christenthums, von dem Mitbruder trennt, muß dennoch die warme Liebe
ihres Herzens ihn reich zu segnen vermögen. Wie die am Kreuze ausgebrei¬
teten Arme ihres Erlösers in alle Jahrhunderte hineinragen, so muß die thätige,
aufopfernde Liebe ihres Herzens, wenigstens der Gesinnung nach, sich auf Alle
ausbreiten und somit kühn die Schranken der Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft hinwegräumen."

1842 wurde Amalie als Apothekerin in das Hospital zu Aachen geschickt
und blieb sieben Jahre in dieser Stellung. Es waren die schwersten ihres
Lebens. Der enge Gesichtskreis, in dem ihre Umgebung befangen war, und in
den sich einzuhegen als religiöse Pflicht geboten wurde, schnürte sie ein. Der
Drang, ihn zu brechen, das Bewußtsein, dnrch das Gebot des Ordens in diese
Schranken gebannt zu sein, versetzten ihre Seele in die schmerzlichste Unruhe.
"Soviel weiß ich," schreibt sie später, "daß ich oft unter heißen Thränen gebetet
habe, der liebe Gott möge mich stumpf, gefühllos für alles das macheu, was
von Jugend auf so groß und edel vor meiner Seele gestanden hat." Aber
der ewige Gotteswille, der den Menschen zum Reichthum, nicht zur Armuth
des inner" Lebeus geschaffen hat, trug den Sieg über den Menschenwillen, der
ihn entstellte, in ihrem Herzen davon. "Wie habe ich nicht später den lieben
Gott wieder gebeten," schreibt sie ein andermal, "mir diese thörichte Bitte zu ver¬
zeihen und sie unerfüllt zu lassen! Wie so ganz verarmt hätte ich erst dann
in meinem Berufskreis gestanden, wenn das tiefe, lebendige Gefühl stumpf
geworden wäre! Die Verzichtleistung auf die äußeren Lebensgüter hat mich
freilich keinen Augenblick arm gemacht, aber welchem bitteren Mangel wäre ich
Preis gegeben worden, hätte ich meiner inneren Gefühlswelt Lebewohl sagen
müssen! Wie undankbar wies ich diese köstliche Gabe Gottes zurück, weil sie
mir zu groß für den kleinen Raum innerhalb der Klostermauern schien."

Der Orden forderte, nicht blos den äußeren, sondern auch den inneren
Zusammenhang mit Verwandten und Freunden zu lösen. Amalie wollte und


leben, indem sie es lernte, von dem eng eingehegten Ort aus, an den sie ge¬
bunden war, mit weitem Herzen die ganze Welt zu umfassen. „Es ist wohl
eine Selbsttäuschung," schreibt sie, „daß ich wähne, die Grenzen meiner Berufs-
pflicht seien sür mich so eng umschließend wie die vier Mauern meines Hospitals.
Nur Eins ist größer als unser Herz: Gott auf dem lichten Himmelsthron;
mithin vermag unser Herz die fernsten Grenzen der Erde zu umschließen, und
wie viel mehr muß daher das Herz einer Barmherzigen Schwester Alle und
Alle umfassen — das Ferne muß ihr nah sein — die Höhe des Glückes und
die Tiefe des Leidens ihrer Mitmenschen muß immer mit mächtigem Schlag
das Saitenspiel ihres Herzens berühren — der Andern Leid und Freud muß
das ihrige werden — ja auch da, wo das Heiligthum ihres Innern, die Lehre
des Christenthums, von dem Mitbruder trennt, muß dennoch die warme Liebe
ihres Herzens ihn reich zu segnen vermögen. Wie die am Kreuze ausgebrei¬
teten Arme ihres Erlösers in alle Jahrhunderte hineinragen, so muß die thätige,
aufopfernde Liebe ihres Herzens, wenigstens der Gesinnung nach, sich auf Alle
ausbreiten und somit kühn die Schranken der Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft hinwegräumen."

1842 wurde Amalie als Apothekerin in das Hospital zu Aachen geschickt
und blieb sieben Jahre in dieser Stellung. Es waren die schwersten ihres
Lebens. Der enge Gesichtskreis, in dem ihre Umgebung befangen war, und in
den sich einzuhegen als religiöse Pflicht geboten wurde, schnürte sie ein. Der
Drang, ihn zu brechen, das Bewußtsein, dnrch das Gebot des Ordens in diese
Schranken gebannt zu sein, versetzten ihre Seele in die schmerzlichste Unruhe.
„Soviel weiß ich," schreibt sie später, „daß ich oft unter heißen Thränen gebetet
habe, der liebe Gott möge mich stumpf, gefühllos für alles das macheu, was
von Jugend auf so groß und edel vor meiner Seele gestanden hat." Aber
der ewige Gotteswille, der den Menschen zum Reichthum, nicht zur Armuth
des inner« Lebeus geschaffen hat, trug den Sieg über den Menschenwillen, der
ihn entstellte, in ihrem Herzen davon. „Wie habe ich nicht später den lieben
Gott wieder gebeten," schreibt sie ein andermal, „mir diese thörichte Bitte zu ver¬
zeihen und sie unerfüllt zu lassen! Wie so ganz verarmt hätte ich erst dann
in meinem Berufskreis gestanden, wenn das tiefe, lebendige Gefühl stumpf
geworden wäre! Die Verzichtleistung auf die äußeren Lebensgüter hat mich
freilich keinen Augenblick arm gemacht, aber welchem bitteren Mangel wäre ich
Preis gegeben worden, hätte ich meiner inneren Gefühlswelt Lebewohl sagen
müssen! Wie undankbar wies ich diese köstliche Gabe Gottes zurück, weil sie
mir zu groß für den kleinen Raum innerhalb der Klostermauern schien."

Der Orden forderte, nicht blos den äußeren, sondern auch den inneren
Zusammenhang mit Verwandten und Freunden zu lösen. Amalie wollte und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/441>, abgerufen am 01.09.2024.