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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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walt und zog sich mit seiner Familie auf ein kleines Gut zurück, welches er
in Posdorf, einem lothringischen Dorfe, befaß. Als er seinen Bann für kurze
Zeit brach und nach Straßburg zurückkehrte, um seiner sterbenden Mutter die
Augen zu schließen, wurde er verhaftet und in Anklagezustand versetzt. Aber
in Ermangelung von Schuldbeweiseu mußte man ihn wieder freigeben und
schickte ihn in seine Verbannung zurück. Das Eutlassungsurtheil lautete:
"Türckheim wurde mit Unrecht verhaftet, wir vermochten nichts gegen ihn
aufzubringen, was eine längere Verhaftung entschuldigen könnte; er ist ein
durchaus gerechter und allgemein geachteter Mann," Er ging wieder nach
Posdorf und wurde dort in kurzem nicht blos der Freund und Rathgeber
aller Bedrängten, sondern übernahm anch die Geschäftsführung der Gemeinde,
deren Vorstand bei der allgemeinen Verwirrung nicht mehr recht wußte, wem
er eigentlich gehorchen solle. Diese Hilfsbereitschaft sollte ihm das Leben retten.
Eines Morgens übergab ihm, da alle ankommenden Briefe ihm überbracht
wurden, der Gemeindevorstand eine Depesche vom Straßburger Komite, die
seinen eigenen Verhaftsbefehl enthielt und die Weisung, ihn vor das Revo¬
lutionsgericht in Straßburg abführen zu lassen! Kein Augenblick war zu ver¬
lieren. Er umarmte Lili und die Kinder und floh aus dem Dorfe, während
die Sturmglocken läuteten, welche die "Patrioten" zusammenrief, um den
Wortlaut der Depesche zu vernehmen. Tag und Nacht wanderte er, bis er
nach Saarbrücken kam, wo er, als Holzhauer verkleidet, durch die Vorposten
sich durchschlich, endlich auf freien Boden gelangte und dann seinen Weg nach
Heidelberg fortsetzte. Von Saarbrücken aus ließ er Lili durch einen alten,
treuen Invaliden die Botschaft überbringen: "Der Weg über Saarbrücken ist
frei, ihr sollt kommen!" Lili erhielt diese Nachricht nach drei Tagen grau¬
samster Ungewißheit. Eine Weile glaubte sie an Verrath; dann raffte sie sich
auf und flüchtete mit ihren fünf Kindern. Der Hauslehrer der Kinder, Neds-
lob, war der Einzige, der auf der gräßlichen Reise ihr zur Seite blieb. Ihm
verdanken wir den nachfolgenden Bericht, der von Lili's aufopfernder Ent¬
schlossenheit ein rührendes Zeugniß gibt.

"Die Mutter -- schreibt er -- war der Kinder und meine Rettung. Wenn
wir ermattet niedersinken wollten, wußte sie unsre Kräfte bald durch einen
heitern Scherz, bald durch Versprechungen, bald wieder durch ernste Mahnungen
aufzustacheln. So versprach sie z. B. den Knaben neue Stiefel, die alle
Wunden der Füße schnell heilen würden. Wie wir die Mühen der Reise
überstanden und die Kinder vorwärts gebracht haben, weiß ich heute noch nicht.
Als wir nach Saarbrücken kamen und uns gesagt wurde, daß niemand die
Brücke passiren dürfe als Landleute, die Lebensmittel in die Stadt brächten,
mußten wir uns trennen. Frau von Türckheim, als Bäuerin verkleidet, mit


Grenzboten III. 1379. L2

walt und zog sich mit seiner Familie auf ein kleines Gut zurück, welches er
in Posdorf, einem lothringischen Dorfe, befaß. Als er seinen Bann für kurze
Zeit brach und nach Straßburg zurückkehrte, um seiner sterbenden Mutter die
Augen zu schließen, wurde er verhaftet und in Anklagezustand versetzt. Aber
in Ermangelung von Schuldbeweiseu mußte man ihn wieder freigeben und
schickte ihn in seine Verbannung zurück. Das Eutlassungsurtheil lautete:
„Türckheim wurde mit Unrecht verhaftet, wir vermochten nichts gegen ihn
aufzubringen, was eine längere Verhaftung entschuldigen könnte; er ist ein
durchaus gerechter und allgemein geachteter Mann," Er ging wieder nach
Posdorf und wurde dort in kurzem nicht blos der Freund und Rathgeber
aller Bedrängten, sondern übernahm anch die Geschäftsführung der Gemeinde,
deren Vorstand bei der allgemeinen Verwirrung nicht mehr recht wußte, wem
er eigentlich gehorchen solle. Diese Hilfsbereitschaft sollte ihm das Leben retten.
Eines Morgens übergab ihm, da alle ankommenden Briefe ihm überbracht
wurden, der Gemeindevorstand eine Depesche vom Straßburger Komite, die
seinen eigenen Verhaftsbefehl enthielt und die Weisung, ihn vor das Revo¬
lutionsgericht in Straßburg abführen zu lassen! Kein Augenblick war zu ver¬
lieren. Er umarmte Lili und die Kinder und floh aus dem Dorfe, während
die Sturmglocken läuteten, welche die „Patrioten" zusammenrief, um den
Wortlaut der Depesche zu vernehmen. Tag und Nacht wanderte er, bis er
nach Saarbrücken kam, wo er, als Holzhauer verkleidet, durch die Vorposten
sich durchschlich, endlich auf freien Boden gelangte und dann seinen Weg nach
Heidelberg fortsetzte. Von Saarbrücken aus ließ er Lili durch einen alten,
treuen Invaliden die Botschaft überbringen: „Der Weg über Saarbrücken ist
frei, ihr sollt kommen!" Lili erhielt diese Nachricht nach drei Tagen grau¬
samster Ungewißheit. Eine Weile glaubte sie an Verrath; dann raffte sie sich
auf und flüchtete mit ihren fünf Kindern. Der Hauslehrer der Kinder, Neds-
lob, war der Einzige, der auf der gräßlichen Reise ihr zur Seite blieb. Ihm
verdanken wir den nachfolgenden Bericht, der von Lili's aufopfernder Ent¬
schlossenheit ein rührendes Zeugniß gibt.

„Die Mutter — schreibt er — war der Kinder und meine Rettung. Wenn
wir ermattet niedersinken wollten, wußte sie unsre Kräfte bald durch einen
heitern Scherz, bald durch Versprechungen, bald wieder durch ernste Mahnungen
aufzustacheln. So versprach sie z. B. den Knaben neue Stiefel, die alle
Wunden der Füße schnell heilen würden. Wie wir die Mühen der Reise
überstanden und die Kinder vorwärts gebracht haben, weiß ich heute noch nicht.
Als wir nach Saarbrücken kamen und uns gesagt wurde, daß niemand die
Brücke passiren dürfe als Landleute, die Lebensmittel in die Stadt brächten,
mußten wir uns trennen. Frau von Türckheim, als Bäuerin verkleidet, mit


Grenzboten III. 1379. L2
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/407>, abgerufen am 27.11.2024.