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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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ein tiefer Gegensatz zwischen den vormaligen und den später verfolgten Prin¬
zipiell findet.

Die Regulative sprechen rund und klar aus: "Der Gedanke einer allge¬
mein menschlichen Bildung durch formelle Entwickelung der Geistesvermögen
an abstraktem Inhalt hat sich durch die Erfahrung als wirkungslos oder schäd¬
lich erwiesen." Dem stand die besonders von jüngeren Lehrern vertretene
Meinung entgegen, durch "wissenschaftliche" Gestaltung des Unterrichtes die
Schule zu heben. Auf intellektuellem Gebiete drängten die Regulative auf
Beschränkung und Vertiefung des Wissensstoffes, die Neuen auf Vermehrung
desselben zum Zwecke der Uebung der Verstandeskraft; auf dem Gebiete der
Charakterbildung führte der Grundsatz der Regulative folgerecht zur konfessio¬
nellen Schule, wobei unter "konfessionell" nur eine bestimmt ausgeprägte Reli-
gionslehre gemeint sein sollte; der entgegengesetzte Standpunkt wird ausgedrückt
durch das Schlagwort "Bildung macht frei", d. h. Mehrung des Wissens, um
verständige Willensübung zu erzielen. Es kam hinzu, daß die Realien, die
Lieblingskinder unserer Tage, breiten Platz in der Volksschule verlangten und
sich als das eigentlich Werthvolle des Unterrichtes geberdeten.

Dieser auf beiden Seiten vielfach ins Extrem getriebene Gegensatz lag
vor, als Falk seine "Allgemeinen Bestimmungen" vom 15. Oktober 1872 erließ.
Wie stellen sich diese nun zu den Regulativen? Nach der landläufigen Ansicht:
in diametralen Gegensatz. Näher besehen, ist dies keineswegs der Fall.

Die "Allgemeinen Bestimmungen" sprechen sich über Prinzipien überhaupt
nicht aus, sie beschränken sich auf die Aufstellung der Stundenpläne und Be¬
zeichnung der Lehrstoffe und Lehrziele. Dennoch treten ihre Absichten, besonders
da, wo sie beschränken und verbieten, erkennbar genug heraus: sie fordern, daß
der Unterricht bildend, anschaulich und dem praktischen Leben dienstbar sein
solle. Das sind aber genau dieselben Dinge, welche die Regulative gefordert
hatten. Auch da, wo die Bestimmungen gegen regulativische Gewohnheiten
opponiren, sind es eben regulativische übele Angewohnheiten, nicht die Regula¬
tive selbst, gegen welche die Opposition sich kehrt. Hier einige Sätze aus den
"Bestimmungen":

"Der Lehrer hat die biblischen Geschichten in einer dem Bibelwort sich
anschließenden Ausdrucksweise frei zu erzählen. Geistloses Einlernen ist zu
vermeiden. Ein Ueberladen des Gedächtnisses ist zu vermeiden. Sprechen,
Lesen und Schreiben müssen auf allen Stufen in organischem Zusammenhange
stehen. Der Inhalt des Lesebuches soll den erziehlichen Zweck der Schule
fördern. Bei der praktischen Anleitung (im Rechnen) ist überall die Beziehung
auf das praktische Leben zu nehmen. Das rein mechanische Einlernen von
Geschichtszahlen, Regentenreihen u. s. w., Länder- und Städtenamen, Ein-


ein tiefer Gegensatz zwischen den vormaligen und den später verfolgten Prin¬
zipiell findet.

Die Regulative sprechen rund und klar aus: „Der Gedanke einer allge¬
mein menschlichen Bildung durch formelle Entwickelung der Geistesvermögen
an abstraktem Inhalt hat sich durch die Erfahrung als wirkungslos oder schäd¬
lich erwiesen." Dem stand die besonders von jüngeren Lehrern vertretene
Meinung entgegen, durch „wissenschaftliche" Gestaltung des Unterrichtes die
Schule zu heben. Auf intellektuellem Gebiete drängten die Regulative auf
Beschränkung und Vertiefung des Wissensstoffes, die Neuen auf Vermehrung
desselben zum Zwecke der Uebung der Verstandeskraft; auf dem Gebiete der
Charakterbildung führte der Grundsatz der Regulative folgerecht zur konfessio¬
nellen Schule, wobei unter „konfessionell" nur eine bestimmt ausgeprägte Reli-
gionslehre gemeint sein sollte; der entgegengesetzte Standpunkt wird ausgedrückt
durch das Schlagwort „Bildung macht frei", d. h. Mehrung des Wissens, um
verständige Willensübung zu erzielen. Es kam hinzu, daß die Realien, die
Lieblingskinder unserer Tage, breiten Platz in der Volksschule verlangten und
sich als das eigentlich Werthvolle des Unterrichtes geberdeten.

Dieser auf beiden Seiten vielfach ins Extrem getriebene Gegensatz lag
vor, als Falk seine „Allgemeinen Bestimmungen" vom 15. Oktober 1872 erließ.
Wie stellen sich diese nun zu den Regulativen? Nach der landläufigen Ansicht:
in diametralen Gegensatz. Näher besehen, ist dies keineswegs der Fall.

Die „Allgemeinen Bestimmungen" sprechen sich über Prinzipien überhaupt
nicht aus, sie beschränken sich auf die Aufstellung der Stundenpläne und Be¬
zeichnung der Lehrstoffe und Lehrziele. Dennoch treten ihre Absichten, besonders
da, wo sie beschränken und verbieten, erkennbar genug heraus: sie fordern, daß
der Unterricht bildend, anschaulich und dem praktischen Leben dienstbar sein
solle. Das sind aber genau dieselben Dinge, welche die Regulative gefordert
hatten. Auch da, wo die Bestimmungen gegen regulativische Gewohnheiten
opponiren, sind es eben regulativische übele Angewohnheiten, nicht die Regula¬
tive selbst, gegen welche die Opposition sich kehrt. Hier einige Sätze aus den
„Bestimmungen":

„Der Lehrer hat die biblischen Geschichten in einer dem Bibelwort sich
anschließenden Ausdrucksweise frei zu erzählen. Geistloses Einlernen ist zu
vermeiden. Ein Ueberladen des Gedächtnisses ist zu vermeiden. Sprechen,
Lesen und Schreiben müssen auf allen Stufen in organischem Zusammenhange
stehen. Der Inhalt des Lesebuches soll den erziehlichen Zweck der Schule
fördern. Bei der praktischen Anleitung (im Rechnen) ist überall die Beziehung
auf das praktische Leben zu nehmen. Das rein mechanische Einlernen von
Geschichtszahlen, Regentenreihen u. s. w., Länder- und Städtenamen, Ein-


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[0393] ein tiefer Gegensatz zwischen den vormaligen und den später verfolgten Prin¬ zipiell findet. Die Regulative sprechen rund und klar aus: „Der Gedanke einer allge¬ mein menschlichen Bildung durch formelle Entwickelung der Geistesvermögen an abstraktem Inhalt hat sich durch die Erfahrung als wirkungslos oder schäd¬ lich erwiesen." Dem stand die besonders von jüngeren Lehrern vertretene Meinung entgegen, durch „wissenschaftliche" Gestaltung des Unterrichtes die Schule zu heben. Auf intellektuellem Gebiete drängten die Regulative auf Beschränkung und Vertiefung des Wissensstoffes, die Neuen auf Vermehrung desselben zum Zwecke der Uebung der Verstandeskraft; auf dem Gebiete der Charakterbildung führte der Grundsatz der Regulative folgerecht zur konfessio¬ nellen Schule, wobei unter „konfessionell" nur eine bestimmt ausgeprägte Reli- gionslehre gemeint sein sollte; der entgegengesetzte Standpunkt wird ausgedrückt durch das Schlagwort „Bildung macht frei", d. h. Mehrung des Wissens, um verständige Willensübung zu erzielen. Es kam hinzu, daß die Realien, die Lieblingskinder unserer Tage, breiten Platz in der Volksschule verlangten und sich als das eigentlich Werthvolle des Unterrichtes geberdeten. Dieser auf beiden Seiten vielfach ins Extrem getriebene Gegensatz lag vor, als Falk seine „Allgemeinen Bestimmungen" vom 15. Oktober 1872 erließ. Wie stellen sich diese nun zu den Regulativen? Nach der landläufigen Ansicht: in diametralen Gegensatz. Näher besehen, ist dies keineswegs der Fall. Die „Allgemeinen Bestimmungen" sprechen sich über Prinzipien überhaupt nicht aus, sie beschränken sich auf die Aufstellung der Stundenpläne und Be¬ zeichnung der Lehrstoffe und Lehrziele. Dennoch treten ihre Absichten, besonders da, wo sie beschränken und verbieten, erkennbar genug heraus: sie fordern, daß der Unterricht bildend, anschaulich und dem praktischen Leben dienstbar sein solle. Das sind aber genau dieselben Dinge, welche die Regulative gefordert hatten. Auch da, wo die Bestimmungen gegen regulativische Gewohnheiten opponiren, sind es eben regulativische übele Angewohnheiten, nicht die Regula¬ tive selbst, gegen welche die Opposition sich kehrt. Hier einige Sätze aus den „Bestimmungen": „Der Lehrer hat die biblischen Geschichten in einer dem Bibelwort sich anschließenden Ausdrucksweise frei zu erzählen. Geistloses Einlernen ist zu vermeiden. Ein Ueberladen des Gedächtnisses ist zu vermeiden. Sprechen, Lesen und Schreiben müssen auf allen Stufen in organischem Zusammenhange stehen. Der Inhalt des Lesebuches soll den erziehlichen Zweck der Schule fördern. Bei der praktischen Anleitung (im Rechnen) ist überall die Beziehung auf das praktische Leben zu nehmen. Das rein mechanische Einlernen von Geschichtszahlen, Regentenreihen u. s. w., Länder- und Städtenamen, Ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/393>, abgerufen am 01.09.2024.