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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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wird auch von materialistischer Seite nicht bestritten und kann nicht bestritten
werden. Die Erfahrung, daß wir mehrere Empfindungen desselben Sinnes, ja
auch Empfindungen verschiedner Sinne mit einander vergleichen können, daß
ferner unter unsern Empfindungen eine Wechselwirkung besteht, daß wir endlich
vermögen, durch Abstraktion von einer Vielheit von Erscheinungen allgemeine
Begriffe zu bilden, bezeugt die Realität der Einheit des Bewußtseins unzwei¬
deutig. Es fragt sich nur, wie diese Thatsache zu deuten ist. Wir stehen hier
vor der Alternative, entweder ein reales Wesen als Träger aller psychischen
Zustände anzunehmen oder mehrere Wesen, so daß jedem derselben die näm¬
lichen innern Zustände inhäriren. Was die zweite Möglichkeit anlangt, so müßte
vorausgesetzt werden, daß die das Gehirn oder den betreffenden Theil desselben
konstituirenden Atome ihre Zustände einander vollständig mittheilen. Da nun
Gleichheit der Zustände in mehreren Elementen die Gleichheit der Qualität
derselben fordert, so müßte diese für die Träger des Seelenlebens angenommen
werden. Vergegenwärtigen wir uns nun, daß das Gehirn aus verschiedenen
Stoffen besteht, so könnten nur die Atome eines derselben, immer unter Voraus¬
setzung ihrer völligen Gleichheit, die geistige Thätigkeit vermitteln. "Jedes dieser
Atome wäre für sich als Träger des ganzen geistigen Lebens eines Individuums
anzusehen, d. h. jedes wäre eine selbstbewußte Seele von derselben Beschaffen¬
heit. Diese vielen Seelen müßten in einer solchen engen Verbindung stehen,
daß der geringsten Abänderung des Systems der innern Zustände in dem
einen Atom gleichzeitig ganz die nämliche Abänderung in allen andern entspräche,
weil jede Nichtübereinstimmung in dieser Beziehung sofort eine Störung des
geistigen Lebens nach sich ziehen würde." (S. 95.) Eine sehr erhebliche Instanz
gegen diese Theorie bildet aber auch der Stoffwechsel. Demselben müßten die
Atome entzogen sein, welche zu Trägern bleibender Vorstellungen bestimmt
wären. Da dies nicht der Fall ist, so wäre nur die Möglichkeit, daß die neu
eintretenden Atome den Vorstellungskreis der zurückgebliebenen in sich aufnahmen,
aber dann doch nur den in ihnen augenblicklich gegenwärtigen. Und doch tauchen
Vorstellungen auf, die lange Zeit latent geblieben sind, eine so lange Zeit, daß
in derselben ein alle Atome des Gehirns umfassender Stoffwechsel hatte eintreten
können. Daraus folgt, daß der Träger des geistigen Lebens dem Stoffwechsel
entnommen sein muß, und da dies bei den Atomen des Gehirns nicht der Fall
ist, so dürfen wir ihn unter diesen auch nicht suchen. Damit ist derselbe aber
anch überhaupt aus der Sphäre des materiellen Seins herausgehoben.

Nun könnte ja immer noch die Frage aufgeworfen werden, ob wir ein
oder mehrere vollkommen gleiche immaterielle Wesen als Vermittler des Seelen¬
lebens einer Person anzunehmen haben. Flügel beantwortet diese Frage dahin,


wird auch von materialistischer Seite nicht bestritten und kann nicht bestritten
werden. Die Erfahrung, daß wir mehrere Empfindungen desselben Sinnes, ja
auch Empfindungen verschiedner Sinne mit einander vergleichen können, daß
ferner unter unsern Empfindungen eine Wechselwirkung besteht, daß wir endlich
vermögen, durch Abstraktion von einer Vielheit von Erscheinungen allgemeine
Begriffe zu bilden, bezeugt die Realität der Einheit des Bewußtseins unzwei¬
deutig. Es fragt sich nur, wie diese Thatsache zu deuten ist. Wir stehen hier
vor der Alternative, entweder ein reales Wesen als Träger aller psychischen
Zustände anzunehmen oder mehrere Wesen, so daß jedem derselben die näm¬
lichen innern Zustände inhäriren. Was die zweite Möglichkeit anlangt, so müßte
vorausgesetzt werden, daß die das Gehirn oder den betreffenden Theil desselben
konstituirenden Atome ihre Zustände einander vollständig mittheilen. Da nun
Gleichheit der Zustände in mehreren Elementen die Gleichheit der Qualität
derselben fordert, so müßte diese für die Träger des Seelenlebens angenommen
werden. Vergegenwärtigen wir uns nun, daß das Gehirn aus verschiedenen
Stoffen besteht, so könnten nur die Atome eines derselben, immer unter Voraus¬
setzung ihrer völligen Gleichheit, die geistige Thätigkeit vermitteln. „Jedes dieser
Atome wäre für sich als Träger des ganzen geistigen Lebens eines Individuums
anzusehen, d. h. jedes wäre eine selbstbewußte Seele von derselben Beschaffen¬
heit. Diese vielen Seelen müßten in einer solchen engen Verbindung stehen,
daß der geringsten Abänderung des Systems der innern Zustände in dem
einen Atom gleichzeitig ganz die nämliche Abänderung in allen andern entspräche,
weil jede Nichtübereinstimmung in dieser Beziehung sofort eine Störung des
geistigen Lebens nach sich ziehen würde." (S. 95.) Eine sehr erhebliche Instanz
gegen diese Theorie bildet aber auch der Stoffwechsel. Demselben müßten die
Atome entzogen sein, welche zu Trägern bleibender Vorstellungen bestimmt
wären. Da dies nicht der Fall ist, so wäre nur die Möglichkeit, daß die neu
eintretenden Atome den Vorstellungskreis der zurückgebliebenen in sich aufnahmen,
aber dann doch nur den in ihnen augenblicklich gegenwärtigen. Und doch tauchen
Vorstellungen auf, die lange Zeit latent geblieben sind, eine so lange Zeit, daß
in derselben ein alle Atome des Gehirns umfassender Stoffwechsel hatte eintreten
können. Daraus folgt, daß der Träger des geistigen Lebens dem Stoffwechsel
entnommen sein muß, und da dies bei den Atomen des Gehirns nicht der Fall
ist, so dürfen wir ihn unter diesen auch nicht suchen. Damit ist derselbe aber
anch überhaupt aus der Sphäre des materiellen Seins herausgehoben.

Nun könnte ja immer noch die Frage aufgeworfen werden, ob wir ein
oder mehrere vollkommen gleiche immaterielle Wesen als Vermittler des Seelen¬
lebens einer Person anzunehmen haben. Flügel beantwortet diese Frage dahin,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/364>, abgerufen am 27.11.2024.