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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Auch die Frage ist auszuwerfen: Wie kommt es, daß nur die Bewegung
der Gehirnfasern von geistigen Zuständen begleitet ist, aber nicht die Bewe¬
gung jeglichen Atoms? Denn die Reflexion auf die Qualität des Bewegten ist
ja von materialistischen Standpunkte aus nicht zulässig. Es soll ja die Bewe¬
gung als solche, nicht die Qualität des Bewegten entscheidend sein. Das Gewicht
dieses Einwurfs haben denn auch einige Materialisten gefühlt und erklärt, daß
in der That Bewegung überall mit geistigen Vorgängen verknüpft sei. So
sagt Haeckel: "Lust und Unlust, Begierde und Abneigung, Anziehung und Ab¬
stoßung müssen allen Massenatomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der
Atome, die bei Bildung und Auflösung einer jeden chemischen Verbindung
stattfinden müssen, sind nur erklärbar, wenn wir ihnen Empfindung und Willen
beilegen." Damit ist thatsächlich der Materialismus überschritten und der Boden
des Spiritualismus betreten, eines Spiritualismus freilich, der ebenso ideenlos
ist wie der Materialismus.

Endlich spricht auch gegen die Theorie einer Identität von Bewegung und
Empfindung die Thatsache, daß wir es vermögen, zugleich verschiedener Empfin¬
dungsqualitäten uns bewußt zu werden, ohne daß diese in eine dritte ver¬
mittelnde sich auflösen, während verschiedene Bewegungen, zu denen ein und
dasselbe Ding zugleich genöthigt wird, sich zu einer mittlern Resultirenden
zusammensetzen.

Der folgende Abschnitt "Stoff und Kraft" ist dem Nachweis gewidmet,
daß wir uns Kräfte nicht ohne einfache Wesen denken können, aus deren
Wechselwirkung sie hervorgehen, und daß diese einfachen Wesen als von einander
verschieden vorzustellen seien, da Veränderungen immer nur von entgegen¬
gesetzten Wesen auf einander hervorgebracht werden können, während gleichartige
sich weder anziehen noch abstoßen, sondern jedes für sich abgeschlossen und für
das andre gleichgiltig bleiben.

Dem Grundgedanken dieser Erörterungen Flügel's, der Voraussetzung
qualitativ bestimmter Wesen, stimmen wir natürlich vollkommen bei, dagegen
lehnen wir die von ihm angenommene Theorie der Herbart'schen Philosophie
von den einfachen, an sich aller Kräfte baren, absolut seienden, einer Entwicke¬
lung unfähigen Wesen mit aller Entschiedenheit ab. Dieselbe, auch nur auf die
materielle Welt beschränkt, unterliegt ernsten Bedenken, denn es läßt sich nicht
begreifen, wie an sich einfache Wesen in ihrer Berührung mit einander eine
Mannigfaltigkeit von Kräften zu entwickeln, ja überhaupt, wie sie aufeinander
zu wirken vermögen; völlig unhaltbar aber wird sie, wenn auch die Seele unter
diese Kategorie gestellt wird.

Den Gegenstand des letzten und wichtigsten Abschnitts unsrer Schrift bildet
"Die Einheit des Bewußtseins". Die Thatsache, um die sich's hier handelt,


Auch die Frage ist auszuwerfen: Wie kommt es, daß nur die Bewegung
der Gehirnfasern von geistigen Zuständen begleitet ist, aber nicht die Bewe¬
gung jeglichen Atoms? Denn die Reflexion auf die Qualität des Bewegten ist
ja von materialistischen Standpunkte aus nicht zulässig. Es soll ja die Bewe¬
gung als solche, nicht die Qualität des Bewegten entscheidend sein. Das Gewicht
dieses Einwurfs haben denn auch einige Materialisten gefühlt und erklärt, daß
in der That Bewegung überall mit geistigen Vorgängen verknüpft sei. So
sagt Haeckel: „Lust und Unlust, Begierde und Abneigung, Anziehung und Ab¬
stoßung müssen allen Massenatomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der
Atome, die bei Bildung und Auflösung einer jeden chemischen Verbindung
stattfinden müssen, sind nur erklärbar, wenn wir ihnen Empfindung und Willen
beilegen." Damit ist thatsächlich der Materialismus überschritten und der Boden
des Spiritualismus betreten, eines Spiritualismus freilich, der ebenso ideenlos
ist wie der Materialismus.

Endlich spricht auch gegen die Theorie einer Identität von Bewegung und
Empfindung die Thatsache, daß wir es vermögen, zugleich verschiedener Empfin¬
dungsqualitäten uns bewußt zu werden, ohne daß diese in eine dritte ver¬
mittelnde sich auflösen, während verschiedene Bewegungen, zu denen ein und
dasselbe Ding zugleich genöthigt wird, sich zu einer mittlern Resultirenden
zusammensetzen.

Der folgende Abschnitt „Stoff und Kraft" ist dem Nachweis gewidmet,
daß wir uns Kräfte nicht ohne einfache Wesen denken können, aus deren
Wechselwirkung sie hervorgehen, und daß diese einfachen Wesen als von einander
verschieden vorzustellen seien, da Veränderungen immer nur von entgegen¬
gesetzten Wesen auf einander hervorgebracht werden können, während gleichartige
sich weder anziehen noch abstoßen, sondern jedes für sich abgeschlossen und für
das andre gleichgiltig bleiben.

Dem Grundgedanken dieser Erörterungen Flügel's, der Voraussetzung
qualitativ bestimmter Wesen, stimmen wir natürlich vollkommen bei, dagegen
lehnen wir die von ihm angenommene Theorie der Herbart'schen Philosophie
von den einfachen, an sich aller Kräfte baren, absolut seienden, einer Entwicke¬
lung unfähigen Wesen mit aller Entschiedenheit ab. Dieselbe, auch nur auf die
materielle Welt beschränkt, unterliegt ernsten Bedenken, denn es läßt sich nicht
begreifen, wie an sich einfache Wesen in ihrer Berührung mit einander eine
Mannigfaltigkeit von Kräften zu entwickeln, ja überhaupt, wie sie aufeinander
zu wirken vermögen; völlig unhaltbar aber wird sie, wenn auch die Seele unter
diese Kategorie gestellt wird.

Den Gegenstand des letzten und wichtigsten Abschnitts unsrer Schrift bildet
„Die Einheit des Bewußtseins". Die Thatsache, um die sich's hier handelt,


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[0363] Auch die Frage ist auszuwerfen: Wie kommt es, daß nur die Bewegung der Gehirnfasern von geistigen Zuständen begleitet ist, aber nicht die Bewe¬ gung jeglichen Atoms? Denn die Reflexion auf die Qualität des Bewegten ist ja von materialistischen Standpunkte aus nicht zulässig. Es soll ja die Bewe¬ gung als solche, nicht die Qualität des Bewegten entscheidend sein. Das Gewicht dieses Einwurfs haben denn auch einige Materialisten gefühlt und erklärt, daß in der That Bewegung überall mit geistigen Vorgängen verknüpft sei. So sagt Haeckel: „Lust und Unlust, Begierde und Abneigung, Anziehung und Ab¬ stoßung müssen allen Massenatomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der Atome, die bei Bildung und Auflösung einer jeden chemischen Verbindung stattfinden müssen, sind nur erklärbar, wenn wir ihnen Empfindung und Willen beilegen." Damit ist thatsächlich der Materialismus überschritten und der Boden des Spiritualismus betreten, eines Spiritualismus freilich, der ebenso ideenlos ist wie der Materialismus. Endlich spricht auch gegen die Theorie einer Identität von Bewegung und Empfindung die Thatsache, daß wir es vermögen, zugleich verschiedener Empfin¬ dungsqualitäten uns bewußt zu werden, ohne daß diese in eine dritte ver¬ mittelnde sich auflösen, während verschiedene Bewegungen, zu denen ein und dasselbe Ding zugleich genöthigt wird, sich zu einer mittlern Resultirenden zusammensetzen. Der folgende Abschnitt „Stoff und Kraft" ist dem Nachweis gewidmet, daß wir uns Kräfte nicht ohne einfache Wesen denken können, aus deren Wechselwirkung sie hervorgehen, und daß diese einfachen Wesen als von einander verschieden vorzustellen seien, da Veränderungen immer nur von entgegen¬ gesetzten Wesen auf einander hervorgebracht werden können, während gleichartige sich weder anziehen noch abstoßen, sondern jedes für sich abgeschlossen und für das andre gleichgiltig bleiben. Dem Grundgedanken dieser Erörterungen Flügel's, der Voraussetzung qualitativ bestimmter Wesen, stimmen wir natürlich vollkommen bei, dagegen lehnen wir die von ihm angenommene Theorie der Herbart'schen Philosophie von den einfachen, an sich aller Kräfte baren, absolut seienden, einer Entwicke¬ lung unfähigen Wesen mit aller Entschiedenheit ab. Dieselbe, auch nur auf die materielle Welt beschränkt, unterliegt ernsten Bedenken, denn es läßt sich nicht begreifen, wie an sich einfache Wesen in ihrer Berührung mit einander eine Mannigfaltigkeit von Kräften zu entwickeln, ja überhaupt, wie sie aufeinander zu wirken vermögen; völlig unhaltbar aber wird sie, wenn auch die Seele unter diese Kategorie gestellt wird. Den Gegenstand des letzten und wichtigsten Abschnitts unsrer Schrift bildet „Die Einheit des Bewußtseins". Die Thatsache, um die sich's hier handelt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/363>, abgerufen am 01.09.2024.