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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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und Eleusinischen Geheimnissen vollendet zu sein. Die Sinne aber sind Ceres,
und Bacchus die Leidenschaften."

"Die Natur wirkt durch Sinne und Leidenschaften. Wer ihre Werkzeuge
verstümmelt, wie mag der empfinden? sind gelähmte Sennadern zur Bewegung
aufgelegt? -- Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege
geräumt, und ihr fordert, daß wir sie nachahmen sollen! -- Ihr macht die
Natur blind durch den Epikurismus, damit sie eure Wegweiserin sein soll! ihr
wollt herrschen über die Natur, und bindet euch selbst Hände und Füße durch
den Stoicismus, um desto rührender über des Schicksals diamantene Fesseln
in euren Gedichten fistuliren zu können!"

"Wenn die Leidenschaften Glieder der Unehre sind, hören sie deswegen
auf, Waffen der Mannheit zu sein? Versteht ihr den Buchstaben der Vernunft
klüger als jener allegorische Kämmerer der alexandrinischen Kirche, der sich selbst
zum Verschnittenen machte um des Himmelreichs willen? -- Leidenschaft allein
giebt Abstraktionen sowohl als Hypothesen Hände, Füße, Flügel; Bildern und
Zeichen Geist, Leben und Zunge. -- Ein Herz ohne Leidenschaften, ohne Affekte,
ist ein Kopf ohne Begriffe, ohne Mark. Die Leidenschaften müssen schon die
Schule ausgelernt haben, wenn der zarte Arm der Vernunft sie regieren soll.
Brauch deine Leidenschaften, wie du deine Gliedmaßen brauchst."

"Doch für euch Jungfern habe ich schon mehr als zuviel geschrieben! Ihr
Wittwen werdet besser versteh", warum die Nacht den Homer erleuchtete und
allen Liebhabern schöner Natur günstig ist, die den hellen Mittag als das Grab
blöder Sinne fürchten! . . warum unsre schönen Geister sich ihres Fleisches
und Blutes schämen, und aus moralischer Heiligkeit kein Mädchen mehr anrühren
mögen als eine Miß Biron! warum die Kämmerlinge der schönen Künste das
Uebliche ihrer Kennzeichen nicht weiter als nach dem Brustbild und der Gar¬
derobe erkennen, und doch ans der Gabe, einen Reifrock zu messen, Hoffnungen
unmöglicher Begebenheiten folgern, nämlich die Morgenröthe eines erquickenden
Tages, den sie niemals erleben werden, so lange sie keine Auferstehung des
Fleisches glauben!"

"Die echte Poesie wird es wagen, den natürlichen Gebrauch der Sinne von
dem natürlichen Gebrauch der Abstraktionen zu läutern, wodurch unsre Begriffe
von den Dingen ebenso verstümmelt werden als der Name des Schöpfers ge¬
lästert wird."

Nicht ohne Grund brachte Hamann die Leidenschaften zu Ehren. Ohne
die Leidenschaft, die mitunter zur Berserkerwuth sich steigert, wenn ihm die
Fratze entgegentritt, wäre Les sing nicht unser Lessing; und Winckelmann
Hütte ein ausgezeichneter Philolog sein können, ein Kunstkenner von erstem


und Eleusinischen Geheimnissen vollendet zu sein. Die Sinne aber sind Ceres,
und Bacchus die Leidenschaften."

„Die Natur wirkt durch Sinne und Leidenschaften. Wer ihre Werkzeuge
verstümmelt, wie mag der empfinden? sind gelähmte Sennadern zur Bewegung
aufgelegt? — Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege
geräumt, und ihr fordert, daß wir sie nachahmen sollen! — Ihr macht die
Natur blind durch den Epikurismus, damit sie eure Wegweiserin sein soll! ihr
wollt herrschen über die Natur, und bindet euch selbst Hände und Füße durch
den Stoicismus, um desto rührender über des Schicksals diamantene Fesseln
in euren Gedichten fistuliren zu können!"

„Wenn die Leidenschaften Glieder der Unehre sind, hören sie deswegen
auf, Waffen der Mannheit zu sein? Versteht ihr den Buchstaben der Vernunft
klüger als jener allegorische Kämmerer der alexandrinischen Kirche, der sich selbst
zum Verschnittenen machte um des Himmelreichs willen? — Leidenschaft allein
giebt Abstraktionen sowohl als Hypothesen Hände, Füße, Flügel; Bildern und
Zeichen Geist, Leben und Zunge. — Ein Herz ohne Leidenschaften, ohne Affekte,
ist ein Kopf ohne Begriffe, ohne Mark. Die Leidenschaften müssen schon die
Schule ausgelernt haben, wenn der zarte Arm der Vernunft sie regieren soll.
Brauch deine Leidenschaften, wie du deine Gliedmaßen brauchst."

„Doch für euch Jungfern habe ich schon mehr als zuviel geschrieben! Ihr
Wittwen werdet besser versteh«, warum die Nacht den Homer erleuchtete und
allen Liebhabern schöner Natur günstig ist, die den hellen Mittag als das Grab
blöder Sinne fürchten! . . warum unsre schönen Geister sich ihres Fleisches
und Blutes schämen, und aus moralischer Heiligkeit kein Mädchen mehr anrühren
mögen als eine Miß Biron! warum die Kämmerlinge der schönen Künste das
Uebliche ihrer Kennzeichen nicht weiter als nach dem Brustbild und der Gar¬
derobe erkennen, und doch ans der Gabe, einen Reifrock zu messen, Hoffnungen
unmöglicher Begebenheiten folgern, nämlich die Morgenröthe eines erquickenden
Tages, den sie niemals erleben werden, so lange sie keine Auferstehung des
Fleisches glauben!"

„Die echte Poesie wird es wagen, den natürlichen Gebrauch der Sinne von
dem natürlichen Gebrauch der Abstraktionen zu läutern, wodurch unsre Begriffe
von den Dingen ebenso verstümmelt werden als der Name des Schöpfers ge¬
lästert wird."

Nicht ohne Grund brachte Hamann die Leidenschaften zu Ehren. Ohne
die Leidenschaft, die mitunter zur Berserkerwuth sich steigert, wenn ihm die
Fratze entgegentritt, wäre Les sing nicht unser Lessing; und Winckelmann
Hütte ein ausgezeichneter Philolog sein können, ein Kunstkenner von erstem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/265>, abgerufen am 27.07.2024.