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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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mit Idioten gleichmacht. Sollten also ein Paar schwarze Augen einmal wunder¬
thätig genug sein, Ihr eiskaltes Herz, mein Herr, in eiuen blühenden Frühling
zu verwandeln, oder das meine: wer sagt uns beiden für unsre Philosophie
gut? Vielleicht dürfte sie uns keine andern Dienste leisten, als unsre Leiden¬
schaft in ein methodischer geschrobenes Spiel zu setzen. Wer sollte sich aber
nicht entschließen, heftig und ausgelassen zu thun, wenn eine Gebieterin diese
Sprache für herzrührend hält? Und warum sollte man sich schämen, durch
Ausrufungen und Hyperbeln ein Glück zu erhalten, das sich durch Definitionen
und Schlüsse weder ergrübeln noch genießen läßt?"

"Es ist gar nicht die Rede, ob ein Meisterstück Fehler habe, sondern wo
die Fehler liegen und wie sie angebracht sind. Jeder vernünftige Autor weiß
seine Fehler zum voraus, er weiß ihnen aber die rechte Stelle zu geben, wo
sie wie der Schatten im Gemälde sich verlieren und abstechen."

"Die Gabe, zu erzählen, ist sehr mannigfaltig. Wer ist der ästhetische
Moses, der Bürgern eines freien Staats Satzungen vorschreiben darf? Die
kräftigsten Irrthümer und Wahrheiten, die unsterblichsten Schönheiten und
tödtlichsten Fehler eines Buchs sind gleich den Elementen unsichtbar, und ich
kümmere mich um die am wenigsten, die man in Augenschein zu setzen im
Stande ist. Wenn unsre Vernunft Fleisch und Bein hat, haben muß: wie
wollen Sie es den Leidenschaften verbieten? wie wollen Sie den erstgebornen
Affect der menschlichen Seele dem Joch der Beschneidung unterwerfen?"

Mendelssohn versuchte auf diesen humoristischen Brief eine humoristische
Entgegnung: ' "Ich hoffe," schreibt er an Abbe, "Hamann soll sie ebenso¬
wenig verstehn, als ich seine Zuschrift verstanden habe." "Wenn ich gewiß
wäre", antwortet Abbe, "daß sich die Verbindung der Ideen dnrch die
Anatomie entdecken ließe, so möchte ich Hamann's Gehirn noch lieber sehn
als Maupertuis das eines Lappländers: ich hätte Lust, es mit dem Archi¬
pelagus zu vergleichen, wo alles Nachbar ist, aber nur durch Schiffe zusammen¬
kommen kann."

Im Februar 1762 sammelte Hamann seine bisherigen Versuche als "Kreuz¬
züge des Philologen". Unter dem Neuhinzugekommener tritt eine "Rhapsodie
in kabbalistischer Prosa" hervor, in der sich alle Stränge seines Denkens wunder¬
lich verzweigen.

"Poesie -- heißt es dort -- ist die Muttersprache des menschlichen Ge¬
schlechts: wie der Gartenbau älter ist als der Acker, Malerei als Schrift, Gesang
als Declamation, Gleichnisse als Schlüsse, Tausch als Handel."

"Sinne und Leidenschaften verstehn nichts als Bilder. In Bildern besteht
der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseligkeit."

"Wagt euch nicht in die Metaphysik der schönen Künste, ohne in den Orgien


mit Idioten gleichmacht. Sollten also ein Paar schwarze Augen einmal wunder¬
thätig genug sein, Ihr eiskaltes Herz, mein Herr, in eiuen blühenden Frühling
zu verwandeln, oder das meine: wer sagt uns beiden für unsre Philosophie
gut? Vielleicht dürfte sie uns keine andern Dienste leisten, als unsre Leiden¬
schaft in ein methodischer geschrobenes Spiel zu setzen. Wer sollte sich aber
nicht entschließen, heftig und ausgelassen zu thun, wenn eine Gebieterin diese
Sprache für herzrührend hält? Und warum sollte man sich schämen, durch
Ausrufungen und Hyperbeln ein Glück zu erhalten, das sich durch Definitionen
und Schlüsse weder ergrübeln noch genießen läßt?"

„Es ist gar nicht die Rede, ob ein Meisterstück Fehler habe, sondern wo
die Fehler liegen und wie sie angebracht sind. Jeder vernünftige Autor weiß
seine Fehler zum voraus, er weiß ihnen aber die rechte Stelle zu geben, wo
sie wie der Schatten im Gemälde sich verlieren und abstechen."

„Die Gabe, zu erzählen, ist sehr mannigfaltig. Wer ist der ästhetische
Moses, der Bürgern eines freien Staats Satzungen vorschreiben darf? Die
kräftigsten Irrthümer und Wahrheiten, die unsterblichsten Schönheiten und
tödtlichsten Fehler eines Buchs sind gleich den Elementen unsichtbar, und ich
kümmere mich um die am wenigsten, die man in Augenschein zu setzen im
Stande ist. Wenn unsre Vernunft Fleisch und Bein hat, haben muß: wie
wollen Sie es den Leidenschaften verbieten? wie wollen Sie den erstgebornen
Affect der menschlichen Seele dem Joch der Beschneidung unterwerfen?"

Mendelssohn versuchte auf diesen humoristischen Brief eine humoristische
Entgegnung: ' „Ich hoffe," schreibt er an Abbe, „Hamann soll sie ebenso¬
wenig verstehn, als ich seine Zuschrift verstanden habe." „Wenn ich gewiß
wäre", antwortet Abbe, „daß sich die Verbindung der Ideen dnrch die
Anatomie entdecken ließe, so möchte ich Hamann's Gehirn noch lieber sehn
als Maupertuis das eines Lappländers: ich hätte Lust, es mit dem Archi¬
pelagus zu vergleichen, wo alles Nachbar ist, aber nur durch Schiffe zusammen¬
kommen kann."

Im Februar 1762 sammelte Hamann seine bisherigen Versuche als „Kreuz¬
züge des Philologen". Unter dem Neuhinzugekommener tritt eine „Rhapsodie
in kabbalistischer Prosa" hervor, in der sich alle Stränge seines Denkens wunder¬
lich verzweigen.

„Poesie — heißt es dort — ist die Muttersprache des menschlichen Ge¬
schlechts: wie der Gartenbau älter ist als der Acker, Malerei als Schrift, Gesang
als Declamation, Gleichnisse als Schlüsse, Tausch als Handel."

„Sinne und Leidenschaften verstehn nichts als Bilder. In Bildern besteht
der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseligkeit."

„Wagt euch nicht in die Metaphysik der schönen Künste, ohne in den Orgien


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[0264] mit Idioten gleichmacht. Sollten also ein Paar schwarze Augen einmal wunder¬ thätig genug sein, Ihr eiskaltes Herz, mein Herr, in eiuen blühenden Frühling zu verwandeln, oder das meine: wer sagt uns beiden für unsre Philosophie gut? Vielleicht dürfte sie uns keine andern Dienste leisten, als unsre Leiden¬ schaft in ein methodischer geschrobenes Spiel zu setzen. Wer sollte sich aber nicht entschließen, heftig und ausgelassen zu thun, wenn eine Gebieterin diese Sprache für herzrührend hält? Und warum sollte man sich schämen, durch Ausrufungen und Hyperbeln ein Glück zu erhalten, das sich durch Definitionen und Schlüsse weder ergrübeln noch genießen läßt?" „Es ist gar nicht die Rede, ob ein Meisterstück Fehler habe, sondern wo die Fehler liegen und wie sie angebracht sind. Jeder vernünftige Autor weiß seine Fehler zum voraus, er weiß ihnen aber die rechte Stelle zu geben, wo sie wie der Schatten im Gemälde sich verlieren und abstechen." „Die Gabe, zu erzählen, ist sehr mannigfaltig. Wer ist der ästhetische Moses, der Bürgern eines freien Staats Satzungen vorschreiben darf? Die kräftigsten Irrthümer und Wahrheiten, die unsterblichsten Schönheiten und tödtlichsten Fehler eines Buchs sind gleich den Elementen unsichtbar, und ich kümmere mich um die am wenigsten, die man in Augenschein zu setzen im Stande ist. Wenn unsre Vernunft Fleisch und Bein hat, haben muß: wie wollen Sie es den Leidenschaften verbieten? wie wollen Sie den erstgebornen Affect der menschlichen Seele dem Joch der Beschneidung unterwerfen?" Mendelssohn versuchte auf diesen humoristischen Brief eine humoristische Entgegnung: ' „Ich hoffe," schreibt er an Abbe, „Hamann soll sie ebenso¬ wenig verstehn, als ich seine Zuschrift verstanden habe." „Wenn ich gewiß wäre", antwortet Abbe, „daß sich die Verbindung der Ideen dnrch die Anatomie entdecken ließe, so möchte ich Hamann's Gehirn noch lieber sehn als Maupertuis das eines Lappländers: ich hätte Lust, es mit dem Archi¬ pelagus zu vergleichen, wo alles Nachbar ist, aber nur durch Schiffe zusammen¬ kommen kann." Im Februar 1762 sammelte Hamann seine bisherigen Versuche als „Kreuz¬ züge des Philologen". Unter dem Neuhinzugekommener tritt eine „Rhapsodie in kabbalistischer Prosa" hervor, in der sich alle Stränge seines Denkens wunder¬ lich verzweigen. „Poesie — heißt es dort — ist die Muttersprache des menschlichen Ge¬ schlechts: wie der Gartenbau älter ist als der Acker, Malerei als Schrift, Gesang als Declamation, Gleichnisse als Schlüsse, Tausch als Handel." „Sinne und Leidenschaften verstehn nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseligkeit." „Wagt euch nicht in die Metaphysik der schönen Künste, ohne in den Orgien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/264>, abgerufen am 24.11.2024.