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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Wald auf dem Haberberge -- zusammen, um die angemeldeten Novitäten zum
Vortrage und zur Besprechung zu bringen. Hieran schloß sich dann eine, meist
sehr erregte, Debatte und eine -- statutengemäß -- unerbittliche Kritik. Zum
Schlüsse wurde bei jeder einzelnen Nummer darüber abgestimmt, ob sie für
würdig befunden, in den Annalen der "Nibelungen" Aufnahme zu finden. Zwei
Drittel bejahende Stimmen ließen eine Umarbeitung und nochmaligen Vortrag
zu; nur "hell-leuchtende" Bcillotage entschied für unbedingte Eintragung in das
"rothe Nibelungen-Album". Dieses "rothe" Album wurde dem Meister all¬
wöchentlich zur Hyperkritik vorgelegt. Rosenkranz unterzog sich derselben mit
einer Geduld, einer Hingebung und einem Zeitaufwands, den wir damals zwar
ganz natürlich fanden, heute aber für bewunderungswürdig erklären müssen.
Zu dem Ideengange jedes Einzelnen wußte er herabzusteigen, in der Sphäre
jedes Individuums sich zurechtzufinden. Seine Wünschelruthe vermochte auch
in des Aermsten und Schwächsten Seele noch unentdeckte Eldorados und Golkon-
das aufzuspüren. Von seinem Geiste elektrisch berührt, sprühten wir ringsum
Funken, daß es eine Lust war. Des Meisters Urtheil entschied nun darüber,
was aus dem "rothen" in das "weiße Album" wandern sollte, mit andern
Worten: was der Veröffentlichung werth sei. Allmonatlich fand eine "Große
Sitzung" in der Behausung unsers geliebten Lehrers (in der Königstraße)
statt. Welch' köstliche Stunden waren das? In ungezwungenster Unterhaltung
bot Rosenkranz uns stets das, was uns -- wie er am besten wußte -- am
meisten noth that. In wunderbarer Klarheit beleuchtete er Punkte, die uns
bisher dunkel geblieben, stellte neue, höhere Ziele vor unsern Blick, lehrte uns
die Größe der Heroen in Wissenschaft und Kunst würdigen, und während wir
harmlos zu plaudern vermeinten, leitete er an unsichtbaren elastischen Fäden
die Unterhaltung stets aus den Niederungen, in die er uns bereitwillig folgte,
wieder empor zu den sonnigen Höhen, wo seine Heimat war. Im Sommer
schloß sich an solche Sitzungen oft ein gemeinschaftlicher Spaziergang in's Freie,
bei dem das Schönste und Beste, was eine Jünglingsseele bewegt, zur Sprache
kam, mit rückhaltslosem Vertrauen wir unser Zweifeln, Irren und Fehlen ihm
zu beichten pflegten und für alle unsere Gebresten in ihm den urtheilenden
Arzt, den warmen, theilnehmenden Freund fanden. Und eben so leicht, wie er
die Diagnose gestellt, so sicher war er auch in Anwendung der Mittel, welche
jeder Individualität frommem. Aber die Abstraktionen, in die wir uns ver¬
tieften, die Ideale, denen wir nachjagten, ließen uns das Reale und Praktische
nie ganz aus den Augen verlieren. Rosenkranz war an solchen Tagen stets
der liebenswürdigste Wirth, und selbst der materiellste Landsmannschafter
hätte seine Leistungen in der "Naturalverpflegung" achtungsvoll anerkannt.
Oft schlössen diese Exkursionen mit einer fideler Kneiperei, von der wir jedoch


Wald auf dem Haberberge — zusammen, um die angemeldeten Novitäten zum
Vortrage und zur Besprechung zu bringen. Hieran schloß sich dann eine, meist
sehr erregte, Debatte und eine — statutengemäß — unerbittliche Kritik. Zum
Schlüsse wurde bei jeder einzelnen Nummer darüber abgestimmt, ob sie für
würdig befunden, in den Annalen der „Nibelungen" Aufnahme zu finden. Zwei
Drittel bejahende Stimmen ließen eine Umarbeitung und nochmaligen Vortrag
zu; nur „hell-leuchtende" Bcillotage entschied für unbedingte Eintragung in das
„rothe Nibelungen-Album". Dieses „rothe" Album wurde dem Meister all¬
wöchentlich zur Hyperkritik vorgelegt. Rosenkranz unterzog sich derselben mit
einer Geduld, einer Hingebung und einem Zeitaufwands, den wir damals zwar
ganz natürlich fanden, heute aber für bewunderungswürdig erklären müssen.
Zu dem Ideengange jedes Einzelnen wußte er herabzusteigen, in der Sphäre
jedes Individuums sich zurechtzufinden. Seine Wünschelruthe vermochte auch
in des Aermsten und Schwächsten Seele noch unentdeckte Eldorados und Golkon-
das aufzuspüren. Von seinem Geiste elektrisch berührt, sprühten wir ringsum
Funken, daß es eine Lust war. Des Meisters Urtheil entschied nun darüber,
was aus dem „rothen" in das „weiße Album" wandern sollte, mit andern
Worten: was der Veröffentlichung werth sei. Allmonatlich fand eine „Große
Sitzung" in der Behausung unsers geliebten Lehrers (in der Königstraße)
statt. Welch' köstliche Stunden waren das? In ungezwungenster Unterhaltung
bot Rosenkranz uns stets das, was uns — wie er am besten wußte — am
meisten noth that. In wunderbarer Klarheit beleuchtete er Punkte, die uns
bisher dunkel geblieben, stellte neue, höhere Ziele vor unsern Blick, lehrte uns
die Größe der Heroen in Wissenschaft und Kunst würdigen, und während wir
harmlos zu plaudern vermeinten, leitete er an unsichtbaren elastischen Fäden
die Unterhaltung stets aus den Niederungen, in die er uns bereitwillig folgte,
wieder empor zu den sonnigen Höhen, wo seine Heimat war. Im Sommer
schloß sich an solche Sitzungen oft ein gemeinschaftlicher Spaziergang in's Freie,
bei dem das Schönste und Beste, was eine Jünglingsseele bewegt, zur Sprache
kam, mit rückhaltslosem Vertrauen wir unser Zweifeln, Irren und Fehlen ihm
zu beichten pflegten und für alle unsere Gebresten in ihm den urtheilenden
Arzt, den warmen, theilnehmenden Freund fanden. Und eben so leicht, wie er
die Diagnose gestellt, so sicher war er auch in Anwendung der Mittel, welche
jeder Individualität frommem. Aber die Abstraktionen, in die wir uns ver¬
tieften, die Ideale, denen wir nachjagten, ließen uns das Reale und Praktische
nie ganz aus den Augen verlieren. Rosenkranz war an solchen Tagen stets
der liebenswürdigste Wirth, und selbst der materiellste Landsmannschafter
hätte seine Leistungen in der „Naturalverpflegung" achtungsvoll anerkannt.
Oft schlössen diese Exkursionen mit einer fideler Kneiperei, von der wir jedoch


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[0198] Wald auf dem Haberberge — zusammen, um die angemeldeten Novitäten zum Vortrage und zur Besprechung zu bringen. Hieran schloß sich dann eine, meist sehr erregte, Debatte und eine — statutengemäß — unerbittliche Kritik. Zum Schlüsse wurde bei jeder einzelnen Nummer darüber abgestimmt, ob sie für würdig befunden, in den Annalen der „Nibelungen" Aufnahme zu finden. Zwei Drittel bejahende Stimmen ließen eine Umarbeitung und nochmaligen Vortrag zu; nur „hell-leuchtende" Bcillotage entschied für unbedingte Eintragung in das „rothe Nibelungen-Album". Dieses „rothe" Album wurde dem Meister all¬ wöchentlich zur Hyperkritik vorgelegt. Rosenkranz unterzog sich derselben mit einer Geduld, einer Hingebung und einem Zeitaufwands, den wir damals zwar ganz natürlich fanden, heute aber für bewunderungswürdig erklären müssen. Zu dem Ideengange jedes Einzelnen wußte er herabzusteigen, in der Sphäre jedes Individuums sich zurechtzufinden. Seine Wünschelruthe vermochte auch in des Aermsten und Schwächsten Seele noch unentdeckte Eldorados und Golkon- das aufzuspüren. Von seinem Geiste elektrisch berührt, sprühten wir ringsum Funken, daß es eine Lust war. Des Meisters Urtheil entschied nun darüber, was aus dem „rothen" in das „weiße Album" wandern sollte, mit andern Worten: was der Veröffentlichung werth sei. Allmonatlich fand eine „Große Sitzung" in der Behausung unsers geliebten Lehrers (in der Königstraße) statt. Welch' köstliche Stunden waren das? In ungezwungenster Unterhaltung bot Rosenkranz uns stets das, was uns — wie er am besten wußte — am meisten noth that. In wunderbarer Klarheit beleuchtete er Punkte, die uns bisher dunkel geblieben, stellte neue, höhere Ziele vor unsern Blick, lehrte uns die Größe der Heroen in Wissenschaft und Kunst würdigen, und während wir harmlos zu plaudern vermeinten, leitete er an unsichtbaren elastischen Fäden die Unterhaltung stets aus den Niederungen, in die er uns bereitwillig folgte, wieder empor zu den sonnigen Höhen, wo seine Heimat war. Im Sommer schloß sich an solche Sitzungen oft ein gemeinschaftlicher Spaziergang in's Freie, bei dem das Schönste und Beste, was eine Jünglingsseele bewegt, zur Sprache kam, mit rückhaltslosem Vertrauen wir unser Zweifeln, Irren und Fehlen ihm zu beichten pflegten und für alle unsere Gebresten in ihm den urtheilenden Arzt, den warmen, theilnehmenden Freund fanden. Und eben so leicht, wie er die Diagnose gestellt, so sicher war er auch in Anwendung der Mittel, welche jeder Individualität frommem. Aber die Abstraktionen, in die wir uns ver¬ tieften, die Ideale, denen wir nachjagten, ließen uns das Reale und Praktische nie ganz aus den Augen verlieren. Rosenkranz war an solchen Tagen stets der liebenswürdigste Wirth, und selbst der materiellste Landsmannschafter hätte seine Leistungen in der „Naturalverpflegung" achtungsvoll anerkannt. Oft schlössen diese Exkursionen mit einer fideler Kneiperei, von der wir jedoch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/198>, abgerufen am 23.11.2024.