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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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steht der Bismarck'schen Reform hier wesentlich anders gegenüber, als nach der
Haltung der Mehrzahl unserer Abgeordneten und den Aeußerungen vieler
unserer Blätter anzunehmen wäre. Auch hier hat man es in weiten Kreisen
mit Freuden begrüßt, daß auf zollpolitischem Gebiete endlich einem Systeme
die Herrschaft genommen worden ist, welches unserm Vaterlande unsäglich viel
Enttäuschung und Elend gebracht hat. Zwar haben uns auch hier die Frei¬
händler s. tour xrix ziffernmäßig bewiesen, welch' einer schönen Blüthe sich
unsere Industrie und Gewerbe gegenwärtig erfreuen, wie wir es doch, seitdem
das Prinzip des Gehenlassens zur herrschenden Maxime geworden, "so herrlich
weit gebracht", und wie erst von dem Augenblicke an, wo die neue Zollpolitik
des Schutzes der nationalen Arbeit und der Gegenseitigkeit in's Leben getreten,
der Ruin unserer wirthschaftlichen Zustände datiren werde; aber man hat im
Volke bei Zeiten eingesehen, welchen Glauben man diesem Orakel beimessen
darf, das dem Munde derer entstammt, die nur zu oft das Gegentheil von
dem vorausgesagt, was eingetroffen. Man sieht der Zukunft bei uns ver¬
trauensvoll entgegen, und an nicht wenigen Orten unseres Ländchens zeigen
sich bereits die Symptome, daß dieses Vertrauen sich thatsächlich zu regen beginnt.

Trotz alledem ist die politische Lage keine erfreuliche, obgleich gerade in
Baden die Mehrzahl der Bevölkerung der liberalen Sache zugethan ist. Nicht
so sehr in Folge davon, daß eine nur künstlich überbrückte Kluft die national- "
liberale Reichstagsfraktion spaltet, oder daß die gemäßigten und selbständigen
liberalen Männer, die sich dem Pascharegime der Berliner Führer unterzu¬
ordnen keine Lust mehr verspürten, ausgetreten find, als vielmehr deswegen,
weil eine größere, tiefere und nahezu unausfüllbare Kluft zwischen dem übrig¬
gebliebenen, immerhin noch imponirenden nationalliberalen Torso und zwischen
dem Volke besteht, das sich der Partei durch die Prinzipien, welche dieselbe
in der letzten Session sich zur Richtschnur genommen, entfremdet fühlt. Die
Partei, die sich in der Gegenwart so laut als Vertreterin des liberalen Bürger¬
und Bauernthums gerirt, hat gerade jetzt fast allen Grund und Boden im Volke
verloren, seit sie sich mit Behagen auf dem Isolirschemel des Doktrinarismus
und der Selbstverblendung niedergelassen hat.

Dieses Mißverhältniß macht sich hier in Baden fast noch mehr als in
Preußen geltend. Denn während gerade hier die wirthschaftliche Reform in
weiten Schichten der Bevölkerung mit Freuden begrüßt wurde, hat von den
badischen Liberalen, im Gegensatze zu den württembergischen und bairischen,
nicht einer für dieselbe gestimmt, obwohl man sehr genau davon unterrichtet
war, wie die Bevölkerung über den Zolltarif dachte. Schon 1878 bei der
Reichstagswahl warf ja die wirthschaftliche Frage ihre Schatten voraus.
Damals erklärte die Führerschaft der badischen Liberalen in ihrem Wahlauf-


steht der Bismarck'schen Reform hier wesentlich anders gegenüber, als nach der
Haltung der Mehrzahl unserer Abgeordneten und den Aeußerungen vieler
unserer Blätter anzunehmen wäre. Auch hier hat man es in weiten Kreisen
mit Freuden begrüßt, daß auf zollpolitischem Gebiete endlich einem Systeme
die Herrschaft genommen worden ist, welches unserm Vaterlande unsäglich viel
Enttäuschung und Elend gebracht hat. Zwar haben uns auch hier die Frei¬
händler s. tour xrix ziffernmäßig bewiesen, welch' einer schönen Blüthe sich
unsere Industrie und Gewerbe gegenwärtig erfreuen, wie wir es doch, seitdem
das Prinzip des Gehenlassens zur herrschenden Maxime geworden, „so herrlich
weit gebracht", und wie erst von dem Augenblicke an, wo die neue Zollpolitik
des Schutzes der nationalen Arbeit und der Gegenseitigkeit in's Leben getreten,
der Ruin unserer wirthschaftlichen Zustände datiren werde; aber man hat im
Volke bei Zeiten eingesehen, welchen Glauben man diesem Orakel beimessen
darf, das dem Munde derer entstammt, die nur zu oft das Gegentheil von
dem vorausgesagt, was eingetroffen. Man sieht der Zukunft bei uns ver¬
trauensvoll entgegen, und an nicht wenigen Orten unseres Ländchens zeigen
sich bereits die Symptome, daß dieses Vertrauen sich thatsächlich zu regen beginnt.

Trotz alledem ist die politische Lage keine erfreuliche, obgleich gerade in
Baden die Mehrzahl der Bevölkerung der liberalen Sache zugethan ist. Nicht
so sehr in Folge davon, daß eine nur künstlich überbrückte Kluft die national- »
liberale Reichstagsfraktion spaltet, oder daß die gemäßigten und selbständigen
liberalen Männer, die sich dem Pascharegime der Berliner Führer unterzu¬
ordnen keine Lust mehr verspürten, ausgetreten find, als vielmehr deswegen,
weil eine größere, tiefere und nahezu unausfüllbare Kluft zwischen dem übrig¬
gebliebenen, immerhin noch imponirenden nationalliberalen Torso und zwischen
dem Volke besteht, das sich der Partei durch die Prinzipien, welche dieselbe
in der letzten Session sich zur Richtschnur genommen, entfremdet fühlt. Die
Partei, die sich in der Gegenwart so laut als Vertreterin des liberalen Bürger¬
und Bauernthums gerirt, hat gerade jetzt fast allen Grund und Boden im Volke
verloren, seit sie sich mit Behagen auf dem Isolirschemel des Doktrinarismus
und der Selbstverblendung niedergelassen hat.

Dieses Mißverhältniß macht sich hier in Baden fast noch mehr als in
Preußen geltend. Denn während gerade hier die wirthschaftliche Reform in
weiten Schichten der Bevölkerung mit Freuden begrüßt wurde, hat von den
badischen Liberalen, im Gegensatze zu den württembergischen und bairischen,
nicht einer für dieselbe gestimmt, obwohl man sehr genau davon unterrichtet
war, wie die Bevölkerung über den Zolltarif dachte. Schon 1878 bei der
Reichstagswahl warf ja die wirthschaftliche Frage ihre Schatten voraus.
Damals erklärte die Führerschaft der badischen Liberalen in ihrem Wahlauf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/180>, abgerufen am 27.07.2024.