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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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wie sie kursirt, in allen Stücken historische Gewißheit zu verleihen vermöchten.
Mit anderen Worten: über die näheren Ursachen und Umstände, welche den
Tod Königsmarck's und die Verbannung der Knrprinzessin Sophie Dorothea
herbeiführten, sowie über deren Schuld oder Unschuld existirt nirgends das
geringste dokumentarische Zeugniß, da alles derartige sorgfältig vernichtet worden
ist. Wohl aber befinden sich in den hannover'schen und anderen Archiven
Dokumente, welche den Vater und die Schwiegereltern der unglücklichen Fürstin
betreffen und indirekt Licht auf die Entwickelung des Schicksals der letzteren
und die Beweggründe werfen, die es herbeiführten. Diese hat der Verfasser
hier zusammengestellt und zu Schlüssen verwendet, die sehr viel Ueberzeugendes
haben und in wesentlichen Punkten von der bisherigen Auffassung dieser Vor¬
gange abweichen.

Die bisherigen Darsteller derselben nahmen die Katastrophe als eine in
sich abgeschlossene Geschichte und suchten sie ohne Rücksicht auf die Charaktere
und das Vorleben der im Trauerspiel auftretenden Persönlichkeiten zu erklären.
Schaumann, der überdies in der Lage gewesen ist, mehr Dokumentarisches über
die Angelegenheit zu sehen als seine Vorgänger, verfährt anders. Er erzählt
uns einfach die Geschichte der bei der Katastrophe betheiligten Personen, er
zeigt uns deren Charakter und deren Pläne und Absichten und kommt so nach
und nach, Schritt vor Schritt zu der Entwickelung, die nothwendig aus
den Verhältnissen folgt, in welche diese Personen zu einander getreten sind.
Nach ihm handelt es sich um eine Hof- und Familienintrigue, durch welche
eine angeblich unebenbürtige, unbequeme, gehaßte, verachtete und in Folge dessen
tief gekränkte Frau, die aber nach dem muthmaßlichen Gange der Begebenheiten
eine Stellung gewinnen mußte, in der sie Vergeltung üben konnte, außer Stand
gesetzt werden sollte, sich zu rächen. Alle den Hof zu Hannover ausmachenden
hohen Persönlichkeiten hatten ein Interesse daran -- und zwar jede ihr beson¬
deres --, die Prinzessin nach dem Ableben Ernst August's, ihres Schwieger¬
vaters, nicht zur mächtigen regierenden Kurfürstin werden zu lassen.

Gehen wir näher auf die Sache ein, so zeigt uns der Verfasser, daß die
treibende Kraft, die Persönlichkeit, in deren Hand die Fäden der Intrigue zu¬
sammenlaufen, eine ganz andere ist als die, welche die Tradition gewöhnlich
nennt. Diese Persönlichkeit war niemand anders als die berühmte Kurfürstin
Sophie, die Freundin des Philosophen Leivniz, die maßlos stolze, den ganzen
Hochmuth der Stuarts in sich bergende Tochter des verbannten "Winterkönigs",
die Enkelin Jakob's I. von England. Sie hatte große und edle Eigenschaften,
jener ihr Stolz aber beherrschte sie in allem, was sie that. Sie verlobte sich
in Heidelberg mit dem schönen Herzog Georg Wilhelm von Braunschweig-
Lünebnrg, den sie liebte. Derselbe trat sie aber, in Venedig, wie es schien,


wie sie kursirt, in allen Stücken historische Gewißheit zu verleihen vermöchten.
Mit anderen Worten: über die näheren Ursachen und Umstände, welche den
Tod Königsmarck's und die Verbannung der Knrprinzessin Sophie Dorothea
herbeiführten, sowie über deren Schuld oder Unschuld existirt nirgends das
geringste dokumentarische Zeugniß, da alles derartige sorgfältig vernichtet worden
ist. Wohl aber befinden sich in den hannover'schen und anderen Archiven
Dokumente, welche den Vater und die Schwiegereltern der unglücklichen Fürstin
betreffen und indirekt Licht auf die Entwickelung des Schicksals der letzteren
und die Beweggründe werfen, die es herbeiführten. Diese hat der Verfasser
hier zusammengestellt und zu Schlüssen verwendet, die sehr viel Ueberzeugendes
haben und in wesentlichen Punkten von der bisherigen Auffassung dieser Vor¬
gange abweichen.

Die bisherigen Darsteller derselben nahmen die Katastrophe als eine in
sich abgeschlossene Geschichte und suchten sie ohne Rücksicht auf die Charaktere
und das Vorleben der im Trauerspiel auftretenden Persönlichkeiten zu erklären.
Schaumann, der überdies in der Lage gewesen ist, mehr Dokumentarisches über
die Angelegenheit zu sehen als seine Vorgänger, verfährt anders. Er erzählt
uns einfach die Geschichte der bei der Katastrophe betheiligten Personen, er
zeigt uns deren Charakter und deren Pläne und Absichten und kommt so nach
und nach, Schritt vor Schritt zu der Entwickelung, die nothwendig aus
den Verhältnissen folgt, in welche diese Personen zu einander getreten sind.
Nach ihm handelt es sich um eine Hof- und Familienintrigue, durch welche
eine angeblich unebenbürtige, unbequeme, gehaßte, verachtete und in Folge dessen
tief gekränkte Frau, die aber nach dem muthmaßlichen Gange der Begebenheiten
eine Stellung gewinnen mußte, in der sie Vergeltung üben konnte, außer Stand
gesetzt werden sollte, sich zu rächen. Alle den Hof zu Hannover ausmachenden
hohen Persönlichkeiten hatten ein Interesse daran — und zwar jede ihr beson¬
deres --, die Prinzessin nach dem Ableben Ernst August's, ihres Schwieger¬
vaters, nicht zur mächtigen regierenden Kurfürstin werden zu lassen.

Gehen wir näher auf die Sache ein, so zeigt uns der Verfasser, daß die
treibende Kraft, die Persönlichkeit, in deren Hand die Fäden der Intrigue zu¬
sammenlaufen, eine ganz andere ist als die, welche die Tradition gewöhnlich
nennt. Diese Persönlichkeit war niemand anders als die berühmte Kurfürstin
Sophie, die Freundin des Philosophen Leivniz, die maßlos stolze, den ganzen
Hochmuth der Stuarts in sich bergende Tochter des verbannten „Winterkönigs",
die Enkelin Jakob's I. von England. Sie hatte große und edle Eigenschaften,
jener ihr Stolz aber beherrschte sie in allem, was sie that. Sie verlobte sich
in Heidelberg mit dem schönen Herzog Georg Wilhelm von Braunschweig-
Lünebnrg, den sie liebte. Derselbe trat sie aber, in Venedig, wie es schien,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/172>, abgerufen am 24.11.2024.