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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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geschleudert werden konnten, nud wie es möglich war, daß ans dieser wüsten
Aufregung die Frucht eines gebesserter Lebens sich entwickeln konnte. Aber
man muß wissen, daß die Bauern des "fernen Westens" von damals so leicht
zu entzünden waren wie Zunder, daß sie sich nichts lange überlegten, daß sie
zu den meisten ihrer Entschlüsse durch ansteckende Aufregung und Begeisterung
bewogen wurden. Und nie verstand sich eine Menschenklasse besser auf auf¬
regende und begeisternde Rede als die alten Wanderprediger des Westens.
Die einfachen Jäger und Waldbaueru, denen sie predigten, hatten den unbe¬
dingtesten Glauben an das Unsichtbare, Jenseitige. Der Tag des Gerichts,
das Elend der Gottlosen in der Verdcumnniß und die Seligkeit der Gerecht¬
befundenen waren ihrem Begriffsvermögen so wirklich, so substanziell, so greifbar
wie nur irgend etwas im Leben dieser Welt. Die Schrecklichkeit der indiani¬
schen Kriegführung mit ihren Scheiterhaufen und Marterpfählen, die Unbarm-
herzigkeit ihrer eignen Rachgier, das plötzliche Lynchen, die entsetzliche Ver¬
worfenheit der in den Wald geflttchteten Verbrecher und die Rücksichtslosigkeit
der Pöbelrotten, die sie als "Regulatoren" verfolgten, waren ein Grund und
Boden, auf dem sich die grobsiunlichste Vorstellung von der Hölle und die
buchstäblichste Auffassung des jüngsten Gerichts aufbauten. Nach diesen Vor¬
stellungen und Auffassungen aber gestalteten sich bei ihnen Reue, Buße und
Besserung zu einem Prozeß von wildester Gewaltsamkeit, der jetzt wie ein
dämonisches Wunder erscheint.




Un Kenn Professor Wilhelm Scherer.
Von einem Alten aus der "Stillen Gemeinde".

Der Deutsche entbehrt manches, was andern Völkern zu erlangen leicht
gemacht wurde. Aber er hat doch auch manches, um das uns alle beneiden
müssen. Unsre klassische Dichtung fällt in eine Epoche hoher intellektueller
Kultur. Vorzüge und Mängel derselben hängen an diesem Umstände. Wir
heutigen aber haben jedenfalls den Vortheil, daß die klassische Zeit nahe genug
liegt, uns die Quellen ihrer Auffassung und Empfindung noch durchaus ver¬
stehen zu lassen. Dazu kommt der unschätzbare Vorzug, daß wir die vollendetste
Poesie in der vollendetsten Musik besitzen, den edelsten Inhalt in verdoppelter
Sprache. Goethe's Lieder komponirt von Franz Schubert -- wo gäbe es
etwas Aehnliches? Schöne Gedichte gibt es anderwärts und schöne Melodieen


geschleudert werden konnten, nud wie es möglich war, daß ans dieser wüsten
Aufregung die Frucht eines gebesserter Lebens sich entwickeln konnte. Aber
man muß wissen, daß die Bauern des „fernen Westens" von damals so leicht
zu entzünden waren wie Zunder, daß sie sich nichts lange überlegten, daß sie
zu den meisten ihrer Entschlüsse durch ansteckende Aufregung und Begeisterung
bewogen wurden. Und nie verstand sich eine Menschenklasse besser auf auf¬
regende und begeisternde Rede als die alten Wanderprediger des Westens.
Die einfachen Jäger und Waldbaueru, denen sie predigten, hatten den unbe¬
dingtesten Glauben an das Unsichtbare, Jenseitige. Der Tag des Gerichts,
das Elend der Gottlosen in der Verdcumnniß und die Seligkeit der Gerecht¬
befundenen waren ihrem Begriffsvermögen so wirklich, so substanziell, so greifbar
wie nur irgend etwas im Leben dieser Welt. Die Schrecklichkeit der indiani¬
schen Kriegführung mit ihren Scheiterhaufen und Marterpfählen, die Unbarm-
herzigkeit ihrer eignen Rachgier, das plötzliche Lynchen, die entsetzliche Ver¬
worfenheit der in den Wald geflttchteten Verbrecher und die Rücksichtslosigkeit
der Pöbelrotten, die sie als „Regulatoren" verfolgten, waren ein Grund und
Boden, auf dem sich die grobsiunlichste Vorstellung von der Hölle und die
buchstäblichste Auffassung des jüngsten Gerichts aufbauten. Nach diesen Vor¬
stellungen und Auffassungen aber gestalteten sich bei ihnen Reue, Buße und
Besserung zu einem Prozeß von wildester Gewaltsamkeit, der jetzt wie ein
dämonisches Wunder erscheint.




Un Kenn Professor Wilhelm Scherer.
Von einem Alten aus der „Stillen Gemeinde".

Der Deutsche entbehrt manches, was andern Völkern zu erlangen leicht
gemacht wurde. Aber er hat doch auch manches, um das uns alle beneiden
müssen. Unsre klassische Dichtung fällt in eine Epoche hoher intellektueller
Kultur. Vorzüge und Mängel derselben hängen an diesem Umstände. Wir
heutigen aber haben jedenfalls den Vortheil, daß die klassische Zeit nahe genug
liegt, uns die Quellen ihrer Auffassung und Empfindung noch durchaus ver¬
stehen zu lassen. Dazu kommt der unschätzbare Vorzug, daß wir die vollendetste
Poesie in der vollendetsten Musik besitzen, den edelsten Inhalt in verdoppelter
Sprache. Goethe's Lieder komponirt von Franz Schubert — wo gäbe es
etwas Aehnliches? Schöne Gedichte gibt es anderwärts und schöne Melodieen


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[0163] geschleudert werden konnten, nud wie es möglich war, daß ans dieser wüsten Aufregung die Frucht eines gebesserter Lebens sich entwickeln konnte. Aber man muß wissen, daß die Bauern des „fernen Westens" von damals so leicht zu entzünden waren wie Zunder, daß sie sich nichts lange überlegten, daß sie zu den meisten ihrer Entschlüsse durch ansteckende Aufregung und Begeisterung bewogen wurden. Und nie verstand sich eine Menschenklasse besser auf auf¬ regende und begeisternde Rede als die alten Wanderprediger des Westens. Die einfachen Jäger und Waldbaueru, denen sie predigten, hatten den unbe¬ dingtesten Glauben an das Unsichtbare, Jenseitige. Der Tag des Gerichts, das Elend der Gottlosen in der Verdcumnniß und die Seligkeit der Gerecht¬ befundenen waren ihrem Begriffsvermögen so wirklich, so substanziell, so greifbar wie nur irgend etwas im Leben dieser Welt. Die Schrecklichkeit der indiani¬ schen Kriegführung mit ihren Scheiterhaufen und Marterpfählen, die Unbarm- herzigkeit ihrer eignen Rachgier, das plötzliche Lynchen, die entsetzliche Ver¬ worfenheit der in den Wald geflttchteten Verbrecher und die Rücksichtslosigkeit der Pöbelrotten, die sie als „Regulatoren" verfolgten, waren ein Grund und Boden, auf dem sich die grobsiunlichste Vorstellung von der Hölle und die buchstäblichste Auffassung des jüngsten Gerichts aufbauten. Nach diesen Vor¬ stellungen und Auffassungen aber gestalteten sich bei ihnen Reue, Buße und Besserung zu einem Prozeß von wildester Gewaltsamkeit, der jetzt wie ein dämonisches Wunder erscheint. Un Kenn Professor Wilhelm Scherer. Von einem Alten aus der „Stillen Gemeinde". Der Deutsche entbehrt manches, was andern Völkern zu erlangen leicht gemacht wurde. Aber er hat doch auch manches, um das uns alle beneiden müssen. Unsre klassische Dichtung fällt in eine Epoche hoher intellektueller Kultur. Vorzüge und Mängel derselben hängen an diesem Umstände. Wir heutigen aber haben jedenfalls den Vortheil, daß die klassische Zeit nahe genug liegt, uns die Quellen ihrer Auffassung und Empfindung noch durchaus ver¬ stehen zu lassen. Dazu kommt der unschätzbare Vorzug, daß wir die vollendetste Poesie in der vollendetsten Musik besitzen, den edelsten Inhalt in verdoppelter Sprache. Goethe's Lieder komponirt von Franz Schubert — wo gäbe es etwas Aehnliches? Schöne Gedichte gibt es anderwärts und schöne Melodieen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/163>, abgerufen am 09.11.2024.