Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

entzogen sein muß, ergibt sich schon daraus, daß der Gegenstand der Interpre¬
tation in solchen Fällen nicht innerhalb der Rechtsgrenzen liegt.

Auch in die Frage von der Gesetzesinitiative hat sich der Gegensatz der
politischen Meinungen und Parteien gemischt, und auch hier erweist sich die
Rechtsstaatstheorie als unzulänglich. Gerade die Leidenschaft der politischen
Parteien hat nicht nur den wesentlichen Pflichtcharakter der Gesetzesinitiative,
sondern auch den Umstand übersehen, daß dieselbe weder blos gegen das Volk,
noch blos gegen die Regierung wirksam sein kann. Eine falsche Anschauung
vom Wesen der Monarchie kann die Meinung, die Gesetzesinitiative gehöre zu
den wesentlichen Prärogativen der Krone, ebenso wenig rechtfertigen, wie die
ebenfalls irrthümliche Lehre von der Volkssouveränetät in einem monarchischen
Staate die Gesetzesinitiative als wesentliches Recht der Volksvertretung zu be¬
gründen vermag. Auch die Behauptungen, dieselbe müsse der Krone gehören,
damit nicht eine zu große Veränderlichkeit in die Gesetze komme, oder sie müsse
der Repräsentation der Staatsbürger zustehen, damit der Fortschritt nicht zu
sehr aufgehalten werde, sind nicht stichhaltig. Der formelle Gesetzgebungsakt
ist lange nicht so wichtig, als die lebendige Kraft, die ihn veranlaßt, der for¬
melle Bestand von weit geringerer Bedeutung als jene Kraft, die ihn erfüllt.
Kein solcher Akt ruft abgestorbene Einrichtungen wieder in's Leben, und mit
der Aufhebung eines Gesetzes sind ebenso wenig dessen Wirkungen vernichtet,
als mit Erlaß eines neuen Gesetzes die damit beabsichtigten Wirkungen ge¬
sichert sind. Hatte das aufgehobene Gesetz Leben, so besteht dasselbe fort, hat
das neue kein Leben oder nur halbes, fo wirkt es nicht oder (man denke an
die wirtschaftlichen Neuerungen, mit denen uns die Manchesterschule und die
Apostel der "Humanität" beschenkt haben) in üblem Sinne. Ob die beantragte
Neuerung anderswo ohne Nachtheil, ja mit Nutzen besteht, ist an sich von ge¬
ringer Bedeutung und kann sogar gegen das Gesetz sprechen; denn es macht
einen großen Unterschied, ob eine Einrichtung da oder dort als gewohnt er¬
tragen oder ob sie für ein Land vorgeschlagen wird, wo für die durch sie ab¬
zuändernden Bestimmungen starke und gerechte Sympathieen herrschen. Oft
hört man die Ansicht äußern, daß der Umschlag der öffentlichen Meinung stets
sehr schnell erfolge, die Völker also wandelsüchtig seien, aber, wie Held nach¬
weist, ist das Gegentheil der Fall. "Zweckmäßige Gesetze binden und begründen
schnell so viele und so mächtige Interessen, daß sie noch lange Lebenskraft
haben, wenn sie schon mächtig von neueren Interessen bekämpft werden. (Man
denke an die Delbrück'sche Aera und die ihr vorausgegangene Gesetzgebung auf
wirthschaftlichem Gebiete.) Der größte Fehler in der Gesetzgebung, seit die
Welt steht, war der, sich von der Reform überholen zu lassen und ihr erst
nachzuhinken -- ein Fehler, den nur die Faulheit oder die Ueberschwenglichkeit


entzogen sein muß, ergibt sich schon daraus, daß der Gegenstand der Interpre¬
tation in solchen Fällen nicht innerhalb der Rechtsgrenzen liegt.

Auch in die Frage von der Gesetzesinitiative hat sich der Gegensatz der
politischen Meinungen und Parteien gemischt, und auch hier erweist sich die
Rechtsstaatstheorie als unzulänglich. Gerade die Leidenschaft der politischen
Parteien hat nicht nur den wesentlichen Pflichtcharakter der Gesetzesinitiative,
sondern auch den Umstand übersehen, daß dieselbe weder blos gegen das Volk,
noch blos gegen die Regierung wirksam sein kann. Eine falsche Anschauung
vom Wesen der Monarchie kann die Meinung, die Gesetzesinitiative gehöre zu
den wesentlichen Prärogativen der Krone, ebenso wenig rechtfertigen, wie die
ebenfalls irrthümliche Lehre von der Volkssouveränetät in einem monarchischen
Staate die Gesetzesinitiative als wesentliches Recht der Volksvertretung zu be¬
gründen vermag. Auch die Behauptungen, dieselbe müsse der Krone gehören,
damit nicht eine zu große Veränderlichkeit in die Gesetze komme, oder sie müsse
der Repräsentation der Staatsbürger zustehen, damit der Fortschritt nicht zu
sehr aufgehalten werde, sind nicht stichhaltig. Der formelle Gesetzgebungsakt
ist lange nicht so wichtig, als die lebendige Kraft, die ihn veranlaßt, der for¬
melle Bestand von weit geringerer Bedeutung als jene Kraft, die ihn erfüllt.
Kein solcher Akt ruft abgestorbene Einrichtungen wieder in's Leben, und mit
der Aufhebung eines Gesetzes sind ebenso wenig dessen Wirkungen vernichtet,
als mit Erlaß eines neuen Gesetzes die damit beabsichtigten Wirkungen ge¬
sichert sind. Hatte das aufgehobene Gesetz Leben, so besteht dasselbe fort, hat
das neue kein Leben oder nur halbes, fo wirkt es nicht oder (man denke an
die wirtschaftlichen Neuerungen, mit denen uns die Manchesterschule und die
Apostel der „Humanität" beschenkt haben) in üblem Sinne. Ob die beantragte
Neuerung anderswo ohne Nachtheil, ja mit Nutzen besteht, ist an sich von ge¬
ringer Bedeutung und kann sogar gegen das Gesetz sprechen; denn es macht
einen großen Unterschied, ob eine Einrichtung da oder dort als gewohnt er¬
tragen oder ob sie für ein Land vorgeschlagen wird, wo für die durch sie ab¬
zuändernden Bestimmungen starke und gerechte Sympathieen herrschen. Oft
hört man die Ansicht äußern, daß der Umschlag der öffentlichen Meinung stets
sehr schnell erfolge, die Völker also wandelsüchtig seien, aber, wie Held nach¬
weist, ist das Gegentheil der Fall. „Zweckmäßige Gesetze binden und begründen
schnell so viele und so mächtige Interessen, daß sie noch lange Lebenskraft
haben, wenn sie schon mächtig von neueren Interessen bekämpft werden. (Man
denke an die Delbrück'sche Aera und die ihr vorausgegangene Gesetzgebung auf
wirthschaftlichem Gebiete.) Der größte Fehler in der Gesetzgebung, seit die
Welt steht, war der, sich von der Reform überholen zu lassen und ihr erst
nachzuhinken — ein Fehler, den nur die Faulheit oder die Ueberschwenglichkeit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0090" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142045"/>
          <p xml:id="ID_283" prev="#ID_282"> entzogen sein muß, ergibt sich schon daraus, daß der Gegenstand der Interpre¬<lb/>
tation in solchen Fällen nicht innerhalb der Rechtsgrenzen liegt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_284" next="#ID_285"> Auch in die Frage von der Gesetzesinitiative hat sich der Gegensatz der<lb/>
politischen Meinungen und Parteien gemischt, und auch hier erweist sich die<lb/>
Rechtsstaatstheorie als unzulänglich. Gerade die Leidenschaft der politischen<lb/>
Parteien hat nicht nur den wesentlichen Pflichtcharakter der Gesetzesinitiative,<lb/>
sondern auch den Umstand übersehen, daß dieselbe weder blos gegen das Volk,<lb/>
noch blos gegen die Regierung wirksam sein kann. Eine falsche Anschauung<lb/>
vom Wesen der Monarchie kann die Meinung, die Gesetzesinitiative gehöre zu<lb/>
den wesentlichen Prärogativen der Krone, ebenso wenig rechtfertigen, wie die<lb/>
ebenfalls irrthümliche Lehre von der Volkssouveränetät in einem monarchischen<lb/>
Staate die Gesetzesinitiative als wesentliches Recht der Volksvertretung zu be¬<lb/>
gründen vermag. Auch die Behauptungen, dieselbe müsse der Krone gehören,<lb/>
damit nicht eine zu große Veränderlichkeit in die Gesetze komme, oder sie müsse<lb/>
der Repräsentation der Staatsbürger zustehen, damit der Fortschritt nicht zu<lb/>
sehr aufgehalten werde, sind nicht stichhaltig. Der formelle Gesetzgebungsakt<lb/>
ist lange nicht so wichtig, als die lebendige Kraft, die ihn veranlaßt, der for¬<lb/>
melle Bestand von weit geringerer Bedeutung als jene Kraft, die ihn erfüllt.<lb/>
Kein solcher Akt ruft abgestorbene Einrichtungen wieder in's Leben, und mit<lb/>
der Aufhebung eines Gesetzes sind ebenso wenig dessen Wirkungen vernichtet,<lb/>
als mit Erlaß eines neuen Gesetzes die damit beabsichtigten Wirkungen ge¬<lb/>
sichert sind. Hatte das aufgehobene Gesetz Leben, so besteht dasselbe fort, hat<lb/>
das neue kein Leben oder nur halbes, fo wirkt es nicht oder (man denke an<lb/>
die wirtschaftlichen Neuerungen, mit denen uns die Manchesterschule und die<lb/>
Apostel der &#x201E;Humanität" beschenkt haben) in üblem Sinne. Ob die beantragte<lb/>
Neuerung anderswo ohne Nachtheil, ja mit Nutzen besteht, ist an sich von ge¬<lb/>
ringer Bedeutung und kann sogar gegen das Gesetz sprechen; denn es macht<lb/>
einen großen Unterschied, ob eine Einrichtung da oder dort als gewohnt er¬<lb/>
tragen oder ob sie für ein Land vorgeschlagen wird, wo für die durch sie ab¬<lb/>
zuändernden Bestimmungen starke und gerechte Sympathieen herrschen. Oft<lb/>
hört man die Ansicht äußern, daß der Umschlag der öffentlichen Meinung stets<lb/>
sehr schnell erfolge, die Völker also wandelsüchtig seien, aber, wie Held nach¬<lb/>
weist, ist das Gegentheil der Fall. &#x201E;Zweckmäßige Gesetze binden und begründen<lb/>
schnell so viele und so mächtige Interessen, daß sie noch lange Lebenskraft<lb/>
haben, wenn sie schon mächtig von neueren Interessen bekämpft werden. (Man<lb/>
denke an die Delbrück'sche Aera und die ihr vorausgegangene Gesetzgebung auf<lb/>
wirthschaftlichem Gebiete.) Der größte Fehler in der Gesetzgebung, seit die<lb/>
Welt steht, war der, sich von der Reform überholen zu lassen und ihr erst<lb/>
nachzuhinken &#x2014; ein Fehler, den nur die Faulheit oder die Ueberschwenglichkeit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0090] entzogen sein muß, ergibt sich schon daraus, daß der Gegenstand der Interpre¬ tation in solchen Fällen nicht innerhalb der Rechtsgrenzen liegt. Auch in die Frage von der Gesetzesinitiative hat sich der Gegensatz der politischen Meinungen und Parteien gemischt, und auch hier erweist sich die Rechtsstaatstheorie als unzulänglich. Gerade die Leidenschaft der politischen Parteien hat nicht nur den wesentlichen Pflichtcharakter der Gesetzesinitiative, sondern auch den Umstand übersehen, daß dieselbe weder blos gegen das Volk, noch blos gegen die Regierung wirksam sein kann. Eine falsche Anschauung vom Wesen der Monarchie kann die Meinung, die Gesetzesinitiative gehöre zu den wesentlichen Prärogativen der Krone, ebenso wenig rechtfertigen, wie die ebenfalls irrthümliche Lehre von der Volkssouveränetät in einem monarchischen Staate die Gesetzesinitiative als wesentliches Recht der Volksvertretung zu be¬ gründen vermag. Auch die Behauptungen, dieselbe müsse der Krone gehören, damit nicht eine zu große Veränderlichkeit in die Gesetze komme, oder sie müsse der Repräsentation der Staatsbürger zustehen, damit der Fortschritt nicht zu sehr aufgehalten werde, sind nicht stichhaltig. Der formelle Gesetzgebungsakt ist lange nicht so wichtig, als die lebendige Kraft, die ihn veranlaßt, der for¬ melle Bestand von weit geringerer Bedeutung als jene Kraft, die ihn erfüllt. Kein solcher Akt ruft abgestorbene Einrichtungen wieder in's Leben, und mit der Aufhebung eines Gesetzes sind ebenso wenig dessen Wirkungen vernichtet, als mit Erlaß eines neuen Gesetzes die damit beabsichtigten Wirkungen ge¬ sichert sind. Hatte das aufgehobene Gesetz Leben, so besteht dasselbe fort, hat das neue kein Leben oder nur halbes, fo wirkt es nicht oder (man denke an die wirtschaftlichen Neuerungen, mit denen uns die Manchesterschule und die Apostel der „Humanität" beschenkt haben) in üblem Sinne. Ob die beantragte Neuerung anderswo ohne Nachtheil, ja mit Nutzen besteht, ist an sich von ge¬ ringer Bedeutung und kann sogar gegen das Gesetz sprechen; denn es macht einen großen Unterschied, ob eine Einrichtung da oder dort als gewohnt er¬ tragen oder ob sie für ein Land vorgeschlagen wird, wo für die durch sie ab¬ zuändernden Bestimmungen starke und gerechte Sympathieen herrschen. Oft hört man die Ansicht äußern, daß der Umschlag der öffentlichen Meinung stets sehr schnell erfolge, die Völker also wandelsüchtig seien, aber, wie Held nach¬ weist, ist das Gegentheil der Fall. „Zweckmäßige Gesetze binden und begründen schnell so viele und so mächtige Interessen, daß sie noch lange Lebenskraft haben, wenn sie schon mächtig von neueren Interessen bekämpft werden. (Man denke an die Delbrück'sche Aera und die ihr vorausgegangene Gesetzgebung auf wirthschaftlichem Gebiete.) Der größte Fehler in der Gesetzgebung, seit die Welt steht, war der, sich von der Reform überholen zu lassen und ihr erst nachzuhinken — ein Fehler, den nur die Faulheit oder die Ueberschwenglichkeit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/90
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/90>, abgerufen am 21.10.2024.