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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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des Neuerungstriebes mitunter entschuldigt. Haben aber die Völker oft Jahr¬
hunderte hindurch unzweckmäßig gewordene Gesetze ertragen, so hat sicher, ehe
endlich der Umschlag wie ein Blitz zündete, ein langes Wetterleuchten stattge¬
funden. Würde längst Beanstandetes oder gar Verworfenes lange ertragen,
(z. B. die Einmischung Rom's in staatliche Angelegenheiten, die Versuche zu einer
Doppelherrschaft des Papstes neben den Fürsten), so erträgt man es endlich
nicht mehr, wenn das bessere Prinzip einen entscheidenden Lichtstrahl auf die
bisher dunkel gebliebene Stelle wirft. Man reibt sich die Augen wie geblendet
nach langem Schlafe, und es wird klar, daß ein längst gehegtes dunkles Ge¬
fühl das Recht auf allgemeine Anerkennung habe. Daß der Mensch nach
solchem Erwachen thätig eingreift und sich nicht in den früheren Zustand
zurückversetzen lassen will, das ist die eigentliche vis viwlis alles Fortschrittes."

Das leidenschaftliche Streben nach schneller Aenderung der Gesetze ist
natürlich, aber als Erzeugniß der Ueberzeugung, daß die im Volke herrschend ^
gewordenen neuen Bedürfnisse und Gedanken mit dem bestehenden Rechte nicht
im Einklange stehen und Beseitigung oder Abänderung desselben erheischen,
juristisch abnorm. Uebrigens ist dieses leidenschaftliche Streben nach Reform
keineswegs eine ausschließliche Eigenschaft der Völker, sondern es hat auch
Monarchen erfüllt; denn es äußert sich bei diesen wie bei den Völkern stets,
wenn, das Vorhandensein des erwähnten Widerspruches zwischen dem neuen
Bedürfnisse und dem vorhandenen Gesetze angenommen, diese oder jene that¬
sächlich die stärkeren sind.

Somit ist auch hier von der formellen Rechtsstaatsidee nichts zu hoffen:
die Thatsachen sind eben stärker als das formelle Recht. "Mögen
sich das," so schließt Held seine Betrachtungen über diesen Gegenstand, "die
Volker und ihre Repräsentationen gesagt sein lassen. Die Monarchie hat ihre,
innere Berechtigung, ihre absoluten Konsequenzen, und zwar nicht blos im
Interesse der Dynastieen und Monarchen, sondern auch in dem der Völker.
Gesetze, welche in blinder Leidenschaft gegen diese Berechtigung und ihre Kon¬
sequenzen durchgesetzt werden, und zwar selbst dann, wenn niemand an die
Vernichtung der Monarchie oder die Auflösung des Staates denkt oder diese
Will, werden die oben erwähnte Kollision seiner Zeit nicht minder herbeiführen,
wie Gesetze, welche in tiefer Verblendung die Konsequenzen der menschlichen
Freiheit ignoriren. Zentrum und Peripherie bedingen sich gegenseitig. Ein
unsicheres, schlechtgeordnetes Zentrum hat ebensowenig eine sichere und wohl¬
geordnete Peripherie wie eine mangelhafte Peripherie ein wohlsituirtes Zentrum."

Großer Streit herrscht über die Beantwortung der Frage, ob der Richter
die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und Verordnungen zu prüfen habe; man
geht dabei bald von dem Rechte des Richters zu solcher Prüfung, bald von der


des Neuerungstriebes mitunter entschuldigt. Haben aber die Völker oft Jahr¬
hunderte hindurch unzweckmäßig gewordene Gesetze ertragen, so hat sicher, ehe
endlich der Umschlag wie ein Blitz zündete, ein langes Wetterleuchten stattge¬
funden. Würde längst Beanstandetes oder gar Verworfenes lange ertragen,
(z. B. die Einmischung Rom's in staatliche Angelegenheiten, die Versuche zu einer
Doppelherrschaft des Papstes neben den Fürsten), so erträgt man es endlich
nicht mehr, wenn das bessere Prinzip einen entscheidenden Lichtstrahl auf die
bisher dunkel gebliebene Stelle wirft. Man reibt sich die Augen wie geblendet
nach langem Schlafe, und es wird klar, daß ein längst gehegtes dunkles Ge¬
fühl das Recht auf allgemeine Anerkennung habe. Daß der Mensch nach
solchem Erwachen thätig eingreift und sich nicht in den früheren Zustand
zurückversetzen lassen will, das ist die eigentliche vis viwlis alles Fortschrittes."

Das leidenschaftliche Streben nach schneller Aenderung der Gesetze ist
natürlich, aber als Erzeugniß der Ueberzeugung, daß die im Volke herrschend ^
gewordenen neuen Bedürfnisse und Gedanken mit dem bestehenden Rechte nicht
im Einklange stehen und Beseitigung oder Abänderung desselben erheischen,
juristisch abnorm. Uebrigens ist dieses leidenschaftliche Streben nach Reform
keineswegs eine ausschließliche Eigenschaft der Völker, sondern es hat auch
Monarchen erfüllt; denn es äußert sich bei diesen wie bei den Völkern stets,
wenn, das Vorhandensein des erwähnten Widerspruches zwischen dem neuen
Bedürfnisse und dem vorhandenen Gesetze angenommen, diese oder jene that¬
sächlich die stärkeren sind.

Somit ist auch hier von der formellen Rechtsstaatsidee nichts zu hoffen:
die Thatsachen sind eben stärker als das formelle Recht. „Mögen
sich das," so schließt Held seine Betrachtungen über diesen Gegenstand, „die
Volker und ihre Repräsentationen gesagt sein lassen. Die Monarchie hat ihre,
innere Berechtigung, ihre absoluten Konsequenzen, und zwar nicht blos im
Interesse der Dynastieen und Monarchen, sondern auch in dem der Völker.
Gesetze, welche in blinder Leidenschaft gegen diese Berechtigung und ihre Kon¬
sequenzen durchgesetzt werden, und zwar selbst dann, wenn niemand an die
Vernichtung der Monarchie oder die Auflösung des Staates denkt oder diese
Will, werden die oben erwähnte Kollision seiner Zeit nicht minder herbeiführen,
wie Gesetze, welche in tiefer Verblendung die Konsequenzen der menschlichen
Freiheit ignoriren. Zentrum und Peripherie bedingen sich gegenseitig. Ein
unsicheres, schlechtgeordnetes Zentrum hat ebensowenig eine sichere und wohl¬
geordnete Peripherie wie eine mangelhafte Peripherie ein wohlsituirtes Zentrum."

Großer Streit herrscht über die Beantwortung der Frage, ob der Richter
die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und Verordnungen zu prüfen habe; man
geht dabei bald von dem Rechte des Richters zu solcher Prüfung, bald von der


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[0091] des Neuerungstriebes mitunter entschuldigt. Haben aber die Völker oft Jahr¬ hunderte hindurch unzweckmäßig gewordene Gesetze ertragen, so hat sicher, ehe endlich der Umschlag wie ein Blitz zündete, ein langes Wetterleuchten stattge¬ funden. Würde längst Beanstandetes oder gar Verworfenes lange ertragen, (z. B. die Einmischung Rom's in staatliche Angelegenheiten, die Versuche zu einer Doppelherrschaft des Papstes neben den Fürsten), so erträgt man es endlich nicht mehr, wenn das bessere Prinzip einen entscheidenden Lichtstrahl auf die bisher dunkel gebliebene Stelle wirft. Man reibt sich die Augen wie geblendet nach langem Schlafe, und es wird klar, daß ein längst gehegtes dunkles Ge¬ fühl das Recht auf allgemeine Anerkennung habe. Daß der Mensch nach solchem Erwachen thätig eingreift und sich nicht in den früheren Zustand zurückversetzen lassen will, das ist die eigentliche vis viwlis alles Fortschrittes." Das leidenschaftliche Streben nach schneller Aenderung der Gesetze ist natürlich, aber als Erzeugniß der Ueberzeugung, daß die im Volke herrschend ^ gewordenen neuen Bedürfnisse und Gedanken mit dem bestehenden Rechte nicht im Einklange stehen und Beseitigung oder Abänderung desselben erheischen, juristisch abnorm. Uebrigens ist dieses leidenschaftliche Streben nach Reform keineswegs eine ausschließliche Eigenschaft der Völker, sondern es hat auch Monarchen erfüllt; denn es äußert sich bei diesen wie bei den Völkern stets, wenn, das Vorhandensein des erwähnten Widerspruches zwischen dem neuen Bedürfnisse und dem vorhandenen Gesetze angenommen, diese oder jene that¬ sächlich die stärkeren sind. Somit ist auch hier von der formellen Rechtsstaatsidee nichts zu hoffen: die Thatsachen sind eben stärker als das formelle Recht. „Mögen sich das," so schließt Held seine Betrachtungen über diesen Gegenstand, „die Volker und ihre Repräsentationen gesagt sein lassen. Die Monarchie hat ihre, innere Berechtigung, ihre absoluten Konsequenzen, und zwar nicht blos im Interesse der Dynastieen und Monarchen, sondern auch in dem der Völker. Gesetze, welche in blinder Leidenschaft gegen diese Berechtigung und ihre Kon¬ sequenzen durchgesetzt werden, und zwar selbst dann, wenn niemand an die Vernichtung der Monarchie oder die Auflösung des Staates denkt oder diese Will, werden die oben erwähnte Kollision seiner Zeit nicht minder herbeiführen, wie Gesetze, welche in tiefer Verblendung die Konsequenzen der menschlichen Freiheit ignoriren. Zentrum und Peripherie bedingen sich gegenseitig. Ein unsicheres, schlechtgeordnetes Zentrum hat ebensowenig eine sichere und wohl¬ geordnete Peripherie wie eine mangelhafte Peripherie ein wohlsituirtes Zentrum." Großer Streit herrscht über die Beantwortung der Frage, ob der Richter die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und Verordnungen zu prüfen habe; man geht dabei bald von dem Rechte des Richters zu solcher Prüfung, bald von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/91>, abgerufen am 28.09.2024.