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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Die gründlichste Umgestaltung eines Verfassungsgesetzes ging nicht einmal
materiell so weit, daß das neue Gesetz nicht wichtige Dinge aus dem bisher
geltenden, aus Hausgesetzen der Dynastie, Ständerechten u. tgi. aufgenommen
hätte oder überhaupt hätte fortbestehen lassen. Da aber die ganze Verfassung
eines Volkes sich nicht in Gesetze fassen läßt, und da die Erfahrung lehrt, daß
ein Staat trotz aller Revolutionen und Staatsstreiche als Staat weiter existiren
kann, so müssen außerhalb der Verfassungsurkunde verfassungsmäßige Bestände
vorhanden sein, die durch Veränderung der letzteren nicht aufgehoben werden
können. Eine Verfassungsurkunde ist daher nicht gleichbedeutend mit der Ver¬
fassung eines Staates, sondern nur der Ausdruck einer Veränderung einzelner
Theile dieser Verfassung.

Wer entscheidet, ob in ooiuzrsto dem vorausgegangenen Bestände und zu¬
gleich der auf Anerkennung hindrängenden neuen Rechtsüberzeugung gebührend
Rechnung getragen ist? Was ist eine formell anerkannte Wirksamkeit, resp.
Giltigkeit der oder jener Verfassung? Die entgegengesetzten Ansichten hierüber
werden sich stets auf Rechtsgründe stützen, und mit der im Obigen charakteri-
sirten Rechtsstaatstheorie ist dabei um so weniger zu helfen, als die Grund-
Prinzipien ihrer Vertreter ebenso verschieden sein können wie ihre politischen
Ansichten vom Staat und von der Staatsgewalt selbst, als ferner der Zustand
eines Staates, in welchem Verfassungsstreitigkeiten ausgebrochen sind, bereits
ein ungeordneter, dem formellen Nechtsstaatsbegriff entrückter ist, und über
solche Streitigkeiten kein Gericht auf versöhnende Weise mit entscheidender
Autorität aburtheilen kann. Geschieht dies doch, so ist immer das Prinzip des
Kompromisses wirksam. Ist dies nicht der Fall, so werden in den Formen
eines Rechtsstreites die mächtigsten politischen Gegensätze hervortreten und einen
Richterspruch über sich nicht anerkennen.

Auf die Frage, wie konstitutionelle Gesetze und namentlich Verfasfungs-
urkunden authentisch zu interpretiren sind, antwortet Held: "nicht nach den
strengen Konsequenzen des Rechtsstaates, also nicht rein nach juristischen oder
gar nach zivilistischen Begriffen"; denn abgesehen davon, daß diese von den
Juristen selbst bestritten sind, "suchen die Anforderungen des erhaltenden und
verändernden Lebensdranges des Volkes, die Macht der politischen Parteien
Befriedigung und Geltung", und diese kann in streng juristischer Auslegung
niemals gefunden werden, wohl aber hat hier das große politische Prinzip der
Transaktion oder des Kompromisses den Ausschlag zu geben -- eine An¬
schauung, über deren Richtigkeit in England niemand in Zweifel ist. Daß die
authentische Auslegung verfassungswidrig erlassener Gesetze oder der Erlasse
usurpatorischer Regierungen der Behandlung uach den Ideen des Rechtsstaates


Die gründlichste Umgestaltung eines Verfassungsgesetzes ging nicht einmal
materiell so weit, daß das neue Gesetz nicht wichtige Dinge aus dem bisher
geltenden, aus Hausgesetzen der Dynastie, Ständerechten u. tgi. aufgenommen
hätte oder überhaupt hätte fortbestehen lassen. Da aber die ganze Verfassung
eines Volkes sich nicht in Gesetze fassen läßt, und da die Erfahrung lehrt, daß
ein Staat trotz aller Revolutionen und Staatsstreiche als Staat weiter existiren
kann, so müssen außerhalb der Verfassungsurkunde verfassungsmäßige Bestände
vorhanden sein, die durch Veränderung der letzteren nicht aufgehoben werden
können. Eine Verfassungsurkunde ist daher nicht gleichbedeutend mit der Ver¬
fassung eines Staates, sondern nur der Ausdruck einer Veränderung einzelner
Theile dieser Verfassung.

Wer entscheidet, ob in ooiuzrsto dem vorausgegangenen Bestände und zu¬
gleich der auf Anerkennung hindrängenden neuen Rechtsüberzeugung gebührend
Rechnung getragen ist? Was ist eine formell anerkannte Wirksamkeit, resp.
Giltigkeit der oder jener Verfassung? Die entgegengesetzten Ansichten hierüber
werden sich stets auf Rechtsgründe stützen, und mit der im Obigen charakteri-
sirten Rechtsstaatstheorie ist dabei um so weniger zu helfen, als die Grund-
Prinzipien ihrer Vertreter ebenso verschieden sein können wie ihre politischen
Ansichten vom Staat und von der Staatsgewalt selbst, als ferner der Zustand
eines Staates, in welchem Verfassungsstreitigkeiten ausgebrochen sind, bereits
ein ungeordneter, dem formellen Nechtsstaatsbegriff entrückter ist, und über
solche Streitigkeiten kein Gericht auf versöhnende Weise mit entscheidender
Autorität aburtheilen kann. Geschieht dies doch, so ist immer das Prinzip des
Kompromisses wirksam. Ist dies nicht der Fall, so werden in den Formen
eines Rechtsstreites die mächtigsten politischen Gegensätze hervortreten und einen
Richterspruch über sich nicht anerkennen.

Auf die Frage, wie konstitutionelle Gesetze und namentlich Verfasfungs-
urkunden authentisch zu interpretiren sind, antwortet Held: „nicht nach den
strengen Konsequenzen des Rechtsstaates, also nicht rein nach juristischen oder
gar nach zivilistischen Begriffen"; denn abgesehen davon, daß diese von den
Juristen selbst bestritten sind, „suchen die Anforderungen des erhaltenden und
verändernden Lebensdranges des Volkes, die Macht der politischen Parteien
Befriedigung und Geltung", und diese kann in streng juristischer Auslegung
niemals gefunden werden, wohl aber hat hier das große politische Prinzip der
Transaktion oder des Kompromisses den Ausschlag zu geben — eine An¬
schauung, über deren Richtigkeit in England niemand in Zweifel ist. Daß die
authentische Auslegung verfassungswidrig erlassener Gesetze oder der Erlasse
usurpatorischer Regierungen der Behandlung uach den Ideen des Rechtsstaates


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/89>, abgerufen am 28.12.2024.