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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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"Im Wesentlichen ist das Gesetz stabil und allgemein," sagt Held, "die
Verwaltnngsnorm beweglich und individualisirend. Aber die Gesetzgebungs-
politik ist entschieden Verwaltung und die Verwaltung Gesetzesvollzug, Ge¬
setzesergänzung." Der Richter hält sich an das Gesetz, aber ohne daß er
geltende Verwaltungsnormen, die jenem nicht widersprechen, unbeachtet lassen
dürfte. Der Verwaltungsbeamte handelt nach Verordnungen, ohne -- Fälle
des Staatsnothrechts ausgenommen -- die Grenze des Gesetzes überschreiten
zu können. Begnadigungen und Amnestieen beweisen, wie unzulänglich das
starre Recht ist. Alles, womit man Revolutionen und Staatsstreiche zu recht¬
fertigen Pflegt, alles was für Reformen des geltenden Rechtes, für den Erlaß
provisorischer Gesetze und für die Anerkennung patriotischer, aber das formelle
Recht verletzender Thaten spricht, zeigt gleichfalls dahin. Zu allen Zeiten galten
für die größten Momente in der Geschichte diejenigen, wo Einzelne dadurch,
daß sie sich ganz für ihre That einsetzten und die volle Verantwortung dafür
übernahmen, unter Beseitigung aller formellen gesetzlichen Hemmnisse den Staat
retteten.

Die innere Einheit von Verwaltung und Justiz zwang im vorrevolutio¬
nären Frankreich bei der Beeinflussung der Gerichtshöfe durch die Krone und
bei dem ganzen Gange der Entwickelung der Parlamente die letzteren, sich in
Verwaltungssachen zu mischen, und unterhöhlte so endlich auch diese Tribunale,
da sie dem Absolutismus nicht widerstehen konnten. Eine Erweiterung der
Justizfphäre, wie sie die Apostel des Rechtsstaates befürworten, müßte bei der
in unseren Tagen herrschenden populären Strömung die Justiz zu eiuer Ein¬
mischung in die Verwaltung im liberalen Sinne verleiten, wodurch sie sicher
ebenso ruinirt werden würde, ohne daß der Staat dabei gewänne.

Die Uebel, die man mit der Rechtsstaatstheorie beseitigen möchte, sind ent¬
weder unvermeidlich, oder nur zu vermindern, wenn die wahre konstitutionelle
Idee zur Verwirklichung kommt. Ueber die Ausführung der in der Rechts¬
staatsidee liegenden berechtigten Gedanken läßt sich demzufolge auch nichts
Allgemeines sagen, und "selbst von der zweckmäßigsten Ausführung darf man
nie zuviel erwarten; denn es bleibt ewig wahr, daß mehr Staaten zu Grunde
gegangen sind, weil man die Sitten, als weil man die Rechtsgesetze verletzt hat,
und daß es in Zeiten großer politischer Erregung kaum möglich ist, zugleich
politisch thätig und vor dem Rechtsgesetze schuldlos zu bleiben, daß endlich
auch niemals mit juristischer Schärfe ausgemacht werden wird, wo die Grenze
des erlaubten Widerstandes anfängt." ^

Wie kann das positive Verfassungsrecht eines Landes rechtmäßig abge¬
ändert werden? Doktrinäre Verblendung nur kann von vollständiger Auf¬
hebung einer Verfassung und Ersetzung derselben durch eine völlig neue reden.


„Im Wesentlichen ist das Gesetz stabil und allgemein," sagt Held, „die
Verwaltnngsnorm beweglich und individualisirend. Aber die Gesetzgebungs-
politik ist entschieden Verwaltung und die Verwaltung Gesetzesvollzug, Ge¬
setzesergänzung." Der Richter hält sich an das Gesetz, aber ohne daß er
geltende Verwaltungsnormen, die jenem nicht widersprechen, unbeachtet lassen
dürfte. Der Verwaltungsbeamte handelt nach Verordnungen, ohne — Fälle
des Staatsnothrechts ausgenommen — die Grenze des Gesetzes überschreiten
zu können. Begnadigungen und Amnestieen beweisen, wie unzulänglich das
starre Recht ist. Alles, womit man Revolutionen und Staatsstreiche zu recht¬
fertigen Pflegt, alles was für Reformen des geltenden Rechtes, für den Erlaß
provisorischer Gesetze und für die Anerkennung patriotischer, aber das formelle
Recht verletzender Thaten spricht, zeigt gleichfalls dahin. Zu allen Zeiten galten
für die größten Momente in der Geschichte diejenigen, wo Einzelne dadurch,
daß sie sich ganz für ihre That einsetzten und die volle Verantwortung dafür
übernahmen, unter Beseitigung aller formellen gesetzlichen Hemmnisse den Staat
retteten.

Die innere Einheit von Verwaltung und Justiz zwang im vorrevolutio¬
nären Frankreich bei der Beeinflussung der Gerichtshöfe durch die Krone und
bei dem ganzen Gange der Entwickelung der Parlamente die letzteren, sich in
Verwaltungssachen zu mischen, und unterhöhlte so endlich auch diese Tribunale,
da sie dem Absolutismus nicht widerstehen konnten. Eine Erweiterung der
Justizfphäre, wie sie die Apostel des Rechtsstaates befürworten, müßte bei der
in unseren Tagen herrschenden populären Strömung die Justiz zu eiuer Ein¬
mischung in die Verwaltung im liberalen Sinne verleiten, wodurch sie sicher
ebenso ruinirt werden würde, ohne daß der Staat dabei gewänne.

Die Uebel, die man mit der Rechtsstaatstheorie beseitigen möchte, sind ent¬
weder unvermeidlich, oder nur zu vermindern, wenn die wahre konstitutionelle
Idee zur Verwirklichung kommt. Ueber die Ausführung der in der Rechts¬
staatsidee liegenden berechtigten Gedanken läßt sich demzufolge auch nichts
Allgemeines sagen, und „selbst von der zweckmäßigsten Ausführung darf man
nie zuviel erwarten; denn es bleibt ewig wahr, daß mehr Staaten zu Grunde
gegangen sind, weil man die Sitten, als weil man die Rechtsgesetze verletzt hat,
und daß es in Zeiten großer politischer Erregung kaum möglich ist, zugleich
politisch thätig und vor dem Rechtsgesetze schuldlos zu bleiben, daß endlich
auch niemals mit juristischer Schärfe ausgemacht werden wird, wo die Grenze
des erlaubten Widerstandes anfängt." ^

Wie kann das positive Verfassungsrecht eines Landes rechtmäßig abge¬
ändert werden? Doktrinäre Verblendung nur kann von vollständiger Auf¬
hebung einer Verfassung und Ersetzung derselben durch eine völlig neue reden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/88>, abgerufen am 28.12.2024.