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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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und Zahlstab in der Hand und den Blick auf die Uhr gerichtet, zum Fest¬
halten von Zeiträumen und Raumzeiten im Kalendarium, erreicht der Mensch
seine höchste Aufgabe, die nach dem Sanskrit-Wurzellaut ist: ein Messender zu
sein, ein Ermesser und Denker!

Im fünften Kapitel wendet sich der Verfasser zu den Apparaten und
Instrumenten, und zwar zunächst zu den optischen. Schon im Alterthume
erkannte man die vergrößernde Eigenschaft sphärisch geformter Glasstücke. Die
"Linse" war das erste optische Instrument, und sie blieb das Konstante, die
Seele desselben, durch alle Wandlungen von der einfachen Lupe bis zu den
Sonnen- und Hydrooxygen-Mikroskopen. Nachdem eine Anzahl von optischen
Apparaten und Instrumenten erfunden, in der That aber dem menschlichen
Sehorgane unbewußt nachgebildet war, konnte das physiologische Räthsel des
Auges gelöst werden, und wiederum ging der Name des Instrumentes, "Linse",
später über auf das lichtbrechende Organ im Auge.

Wie die Bezeichnung "Linse", meint Kapp, so lehrt überhaupt die gesammte
anatomische und physiologische Nomenklatur, daß sie im Wesentlichen aus Namen
besteht, welche von Gegenständen entlehnt worden sind, die sich außerhalb des
Organismus befinden, aber besonders von solchen, die der Projektion ange¬
hören. Wie soll es sonst zu verstehen sein, wenn die Konstruktion des Auges
der einer CÄinsrA odscurg. "ganz analog" befunden wird; wenn gezeigt wird,
daß auf der Netzhaut ein verkehrtes Bild der vor dem Auge befindlichen
Gegenstände "ganz in gleicher Weise entstehe wie das Bild auf der Rückwand
einer earaMÄ okseura.", und daß das Auge ein Organ sei, welches den da-
guerreotypijchen Prozeß in außerordentlicher Vollkommenheit ausführe? --
alles Aussprüche, die sich in den physiologischen Schriften von Joh. Müller,
L. Hermann und C. G. Carus finden. Vom Standpunkte der Organprojektion
hat man solche Aussprüche einfach umzukehren und zu erklären, daß die Kon¬
struktion der eawsiÄ odsoura, ganz analog sei der des Auges, daß sie das von
dem Organe aus unbewußt projizirte mechanische Nachbild desselben sei, durch
dessen Unterstützung die Wissenschaft nachträglich in die Vorgänge der Gesichts-
wahrnehmungen hat eindringen können.

Eben solche Beziehungen bestehen zwischen dem Gehörorgan und den
ihm unbewußt nachgebildeten akustischen Apparaten. Was die Linse und das
Daguerreotyp für die Erkenntniß des Sehorganes, das hat das von Pythagoras
erfundene Monochord und das Klaviatur-Instrument der Neuzeit für die Er¬
kenntniß des Gehörorganes geleistet. Auf dem Monochord hatte das Alterthum
die Konsonante für die Töne gefunden, der moderne "Flügel" ist es, dem
Helmholtz den Schlüssel zu dem 2000 jährigen, im innersten Verschluß des
Ohres verborgenen Geheimniß abgelauscht hat. In dem schneckenförmig ge-


und Zahlstab in der Hand und den Blick auf die Uhr gerichtet, zum Fest¬
halten von Zeiträumen und Raumzeiten im Kalendarium, erreicht der Mensch
seine höchste Aufgabe, die nach dem Sanskrit-Wurzellaut ist: ein Messender zu
sein, ein Ermesser und Denker!

Im fünften Kapitel wendet sich der Verfasser zu den Apparaten und
Instrumenten, und zwar zunächst zu den optischen. Schon im Alterthume
erkannte man die vergrößernde Eigenschaft sphärisch geformter Glasstücke. Die
„Linse" war das erste optische Instrument, und sie blieb das Konstante, die
Seele desselben, durch alle Wandlungen von der einfachen Lupe bis zu den
Sonnen- und Hydrooxygen-Mikroskopen. Nachdem eine Anzahl von optischen
Apparaten und Instrumenten erfunden, in der That aber dem menschlichen
Sehorgane unbewußt nachgebildet war, konnte das physiologische Räthsel des
Auges gelöst werden, und wiederum ging der Name des Instrumentes, „Linse",
später über auf das lichtbrechende Organ im Auge.

Wie die Bezeichnung „Linse", meint Kapp, so lehrt überhaupt die gesammte
anatomische und physiologische Nomenklatur, daß sie im Wesentlichen aus Namen
besteht, welche von Gegenständen entlehnt worden sind, die sich außerhalb des
Organismus befinden, aber besonders von solchen, die der Projektion ange¬
hören. Wie soll es sonst zu verstehen sein, wenn die Konstruktion des Auges
der einer CÄinsrA odscurg. „ganz analog" befunden wird; wenn gezeigt wird,
daß auf der Netzhaut ein verkehrtes Bild der vor dem Auge befindlichen
Gegenstände „ganz in gleicher Weise entstehe wie das Bild auf der Rückwand
einer earaMÄ okseura.", und daß das Auge ein Organ sei, welches den da-
guerreotypijchen Prozeß in außerordentlicher Vollkommenheit ausführe? —
alles Aussprüche, die sich in den physiologischen Schriften von Joh. Müller,
L. Hermann und C. G. Carus finden. Vom Standpunkte der Organprojektion
hat man solche Aussprüche einfach umzukehren und zu erklären, daß die Kon¬
struktion der eawsiÄ odsoura, ganz analog sei der des Auges, daß sie das von
dem Organe aus unbewußt projizirte mechanische Nachbild desselben sei, durch
dessen Unterstützung die Wissenschaft nachträglich in die Vorgänge der Gesichts-
wahrnehmungen hat eindringen können.

Eben solche Beziehungen bestehen zwischen dem Gehörorgan und den
ihm unbewußt nachgebildeten akustischen Apparaten. Was die Linse und das
Daguerreotyp für die Erkenntniß des Sehorganes, das hat das von Pythagoras
erfundene Monochord und das Klaviatur-Instrument der Neuzeit für die Er¬
kenntniß des Gehörorganes geleistet. Auf dem Monochord hatte das Alterthum
die Konsonante für die Töne gefunden, der moderne „Flügel" ist es, dem
Helmholtz den Schlüssel zu dem 2000 jährigen, im innersten Verschluß des
Ohres verborgenen Geheimniß abgelauscht hat. In dem schneckenförmig ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/54>, abgerufen am 27.09.2024.