Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.Schritt mit dem Verlust seiner Berliner Wählerschaft. Auf den Reichstagen Ist Laster des Kanzlers Feind? Er war es nicht; ist er es geworden? Wie ist es möglich, daß bei einer so edlen Gesinnung, bei einer geistigen Nach den Überraschungen, welche das Jahr 1866 der ganzen Welt be¬ Schritt mit dem Verlust seiner Berliner Wählerschaft. Auf den Reichstagen Ist Laster des Kanzlers Feind? Er war es nicht; ist er es geworden? Wie ist es möglich, daß bei einer so edlen Gesinnung, bei einer geistigen Nach den Überraschungen, welche das Jahr 1866 der ganzen Welt be¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0530" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142485"/> <p xml:id="ID_1603" prev="#ID_1602"> Schritt mit dem Verlust seiner Berliner Wählerschaft. Auf den Reichstagen<lb/> des Norddeutschen Bundes, die nunmehr in's Leben traten, gewann der Abge¬<lb/> ordnete Laster bald eine hervorragende parlamentarische Rolle; er nahm sie<lb/> wesentlich im Sinne eines gestaltenden Wirkens seiner Partei auf den von<lb/> dem nunmehrigen Bundeskanzler geschaffenen Grundlagen auf. Damals brachte<lb/> der Kladderadatsch ein Bild mit der Unterschrift: „Er muß eine Stütze<lb/> haben." Dasselbe zeigte den Bundeskanzler hoch aufgerichtet, die Arme mit<lb/> starker Verlängerung über das natürliche Maß an der großen Gestalt her¬<lb/> unterhängend, aber doch nicht lang genug, das Haupt des darunterstehenden<lb/> Laster zu erreichen, auf welches die Rechte sich zu stützen suchte. So bemäch¬<lb/> tigte sich der Humor der damaligen „Stütze" des Kanzlers. Sonderbar: der<lb/> Mann, der als Stütze viel zu klein erschien, scheint nicht zu klein zum unbe¬<lb/> quemen Gegner. Der Wirkung dieser Gegnerschaft hat der Kanzler wiederholt<lb/> sein eigenes Zeugniß ausgestellt. Das Sonderbare dieser Thatsache kann man<lb/> sich nicht durch den Kinderspruch erklären: „Wer dir als Freund nicht nützen<lb/> kann, der kann als Feind dir schaden."</p><lb/> <p xml:id="ID_1604"> Ist Laster des Kanzlers Feind? Er war es nicht; ist er es geworden?<lb/> Mit Willen gewiß nicht, und wenn er es wirklich ist, so ist er es wahrscheinlich<lb/> mit Bedauern. Aber die unbefangene Beobachtung der Vorgänge seit 1869<lb/> zeigt, daß der Abgeordnete Laster dem Kanzler die zahlreichsten Hemmungen<lb/> bereitet hat, und Hemmungen sind schlimmer, nicht nur für die Empfindung,<lb/> sondern vor allem der Wirkung nach, wenn sie von befreundeter Seite kommen.<lb/> Als Freund des Kanzlers aber der Form und gewiß auch der Gesinnung<lb/> nach hat unser Abgeordneter dem Kanzler Schwierigkeiten auf Schwierigkeiten<lb/> geschaffen. Wir glauben genau die Wahrheit zu treffen, wenn wir aussagen:<lb/> der wesentliche Urheber der bedauerlichen und befremdlichen Erscheinung, daß<lb/> die nationalliberale Partei niemals das richtige Verhältniß zum Reichskanzler<lb/> gefunden hat, ist der Abgeordnete Laster. Und doch hat der Reichskanzler den<lb/> edlen Willen des Abgeordneten für die Sache des nationalen Staates wieder¬<lb/> holt anerkannt, freilich nicht ohne Ironie, aber nicht so, daß die Ironie gegen<lb/> die Gesinnung, sondern so, daß sie gegen die Weise der Bethätigung gerichtet<lb/> war. „Er dient Euch auf besondere Weise", würde Mephistopheles sagen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1605"> Wie ist es möglich, daß bei einer so edlen Gesinnung, bei einer geistigen<lb/> Begabung, deren bedeutende Eigenschaften Niemand bestreiten wird, bei einem<lb/> dem Werke des Kanzlers im wesentlichen zugewandten Streben, ein so wider¬<lb/> sprechendes Resultat herauskommt? Auf diese Frage ist wohl gerade jetzt der<lb/> Augenblick, etwas einzugehen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1606" next="#ID_1607"> Nach den Überraschungen, welche das Jahr 1866 der ganzen Welt be¬<lb/> reitet, konnte die nationalliberale Partei nicht wohl mehr im Zweifel sein<lb/> — und die Wegwerfung dieses Zweifels war in der That der Grund, weshalb<lb/> die Partei sich bildete —, daß der Minister, welcher diese unglaublichen Erfolge<lb/> mit beispiellosem Wagen und einer kaum dem Nachverstündniß erreichbaren<lb/> Umsicht geschaffen, nicht der Fortsetzer der Politik werden konnte, die einst nach<lb/> Olmütz geführt hatte, sondern daß er, der der Schöpfer der allerdings noch nicht<lb/> vollendeten deutschen Einheit geworden, diesem mit so heroischer Kraft begon¬<lb/> nenen Werke nicht untreu werden konnte. Wenn sie sich zu dieser Einsicht<lb/> erhob, zu der nichts weiter gehörte als die sittliche Freiheit, sich von dem Aerger<lb/> der Vergangenheit gegen die gewaltige Sprache der Thatsachen nicht verblenden<lb/> zu lassen, dann mußte sie sich sagen, daß dieses Werk weder fortgeführt noch<lb/> erhalten werden könne ohne den lebendigsten Bund mit dem Geiste der Nation.<lb/> Man sagte sich dies und erklärte deshalb den Kanzler, wie für den Führer</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0530]
Schritt mit dem Verlust seiner Berliner Wählerschaft. Auf den Reichstagen
des Norddeutschen Bundes, die nunmehr in's Leben traten, gewann der Abge¬
ordnete Laster bald eine hervorragende parlamentarische Rolle; er nahm sie
wesentlich im Sinne eines gestaltenden Wirkens seiner Partei auf den von
dem nunmehrigen Bundeskanzler geschaffenen Grundlagen auf. Damals brachte
der Kladderadatsch ein Bild mit der Unterschrift: „Er muß eine Stütze
haben." Dasselbe zeigte den Bundeskanzler hoch aufgerichtet, die Arme mit
starker Verlängerung über das natürliche Maß an der großen Gestalt her¬
unterhängend, aber doch nicht lang genug, das Haupt des darunterstehenden
Laster zu erreichen, auf welches die Rechte sich zu stützen suchte. So bemäch¬
tigte sich der Humor der damaligen „Stütze" des Kanzlers. Sonderbar: der
Mann, der als Stütze viel zu klein erschien, scheint nicht zu klein zum unbe¬
quemen Gegner. Der Wirkung dieser Gegnerschaft hat der Kanzler wiederholt
sein eigenes Zeugniß ausgestellt. Das Sonderbare dieser Thatsache kann man
sich nicht durch den Kinderspruch erklären: „Wer dir als Freund nicht nützen
kann, der kann als Feind dir schaden."
Ist Laster des Kanzlers Feind? Er war es nicht; ist er es geworden?
Mit Willen gewiß nicht, und wenn er es wirklich ist, so ist er es wahrscheinlich
mit Bedauern. Aber die unbefangene Beobachtung der Vorgänge seit 1869
zeigt, daß der Abgeordnete Laster dem Kanzler die zahlreichsten Hemmungen
bereitet hat, und Hemmungen sind schlimmer, nicht nur für die Empfindung,
sondern vor allem der Wirkung nach, wenn sie von befreundeter Seite kommen.
Als Freund des Kanzlers aber der Form und gewiß auch der Gesinnung
nach hat unser Abgeordneter dem Kanzler Schwierigkeiten auf Schwierigkeiten
geschaffen. Wir glauben genau die Wahrheit zu treffen, wenn wir aussagen:
der wesentliche Urheber der bedauerlichen und befremdlichen Erscheinung, daß
die nationalliberale Partei niemals das richtige Verhältniß zum Reichskanzler
gefunden hat, ist der Abgeordnete Laster. Und doch hat der Reichskanzler den
edlen Willen des Abgeordneten für die Sache des nationalen Staates wieder¬
holt anerkannt, freilich nicht ohne Ironie, aber nicht so, daß die Ironie gegen
die Gesinnung, sondern so, daß sie gegen die Weise der Bethätigung gerichtet
war. „Er dient Euch auf besondere Weise", würde Mephistopheles sagen.
Wie ist es möglich, daß bei einer so edlen Gesinnung, bei einer geistigen
Begabung, deren bedeutende Eigenschaften Niemand bestreiten wird, bei einem
dem Werke des Kanzlers im wesentlichen zugewandten Streben, ein so wider¬
sprechendes Resultat herauskommt? Auf diese Frage ist wohl gerade jetzt der
Augenblick, etwas einzugehen.
Nach den Überraschungen, welche das Jahr 1866 der ganzen Welt be¬
reitet, konnte die nationalliberale Partei nicht wohl mehr im Zweifel sein
— und die Wegwerfung dieses Zweifels war in der That der Grund, weshalb
die Partei sich bildete —, daß der Minister, welcher diese unglaublichen Erfolge
mit beispiellosem Wagen und einer kaum dem Nachverstündniß erreichbaren
Umsicht geschaffen, nicht der Fortsetzer der Politik werden konnte, die einst nach
Olmütz geführt hatte, sondern daß er, der der Schöpfer der allerdings noch nicht
vollendeten deutschen Einheit geworden, diesem mit so heroischer Kraft begon¬
nenen Werke nicht untreu werden konnte. Wenn sie sich zu dieser Einsicht
erhob, zu der nichts weiter gehörte als die sittliche Freiheit, sich von dem Aerger
der Vergangenheit gegen die gewaltige Sprache der Thatsachen nicht verblenden
zu lassen, dann mußte sie sich sagen, daß dieses Werk weder fortgeführt noch
erhalten werden könne ohne den lebendigsten Bund mit dem Geiste der Nation.
Man sagte sich dies und erklärte deshalb den Kanzler, wie für den Führer
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