Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

von denen, welche vom 20. bis zum 30. Lebensjahre neben den Waffenübungen
auch die Wissenschaften in allgemeiner Form betrieben haben, die zu den
niederen Staatsämtern geeigneten ausgeschieden worden sind, werden die philo¬
sophisch befähigtsten für den ersten Stand bestimmt. Fünf Jahre lang studiren
sie ausschließlich Philosophie. Vom 35. bis zum 50. Jahre bekleiden sie
Kommandos; dann treten sie in das regierende Kollegium und damit in die
höchste mögliche Ehrenstelle ein.

Auch unter ihnen herrscht vollständige Gleichheit. Auch sie leben gemein¬
sam, höchst einfach und werden, wie die Krieger, vom dritten Stande unter¬
halten. Ihre Hauptaufgabe ist die Betrachtung und die Erkenntniß der höchsten
Ideen. Abwechselnd verwalten sie die höchsten Staatsämter und sind in dieser
Stellung die absoluten Herren und Meister des Staats, ohne daß dies für sie
ein Gegenstand des Ehrgeizes oder auch nur der Befriedigung sein könnte.
Denn viel werthvoller ist für sie die edlere und schönere Thätigkeit der philo¬
sophischen Betrachtung, und sie sehen die Staatsverwaltung vielmehr als eine
schwere Pflicht an, die sie jedoch dem Staate schuldig sind, dafür, daß er sie
zur höchsten Vollkommenheit gebracht hat. "Der Staat," sagt Platon, "wird
dann im Wachen und nicht im Träumen verwaltet werden, wie jetzt die meisten
geleitet werden von solchen, die Spiegelfechterei mit einander treiben und um
die Herrschaft streiten, wie wenn sie ein großes Gut wäre."

Die Ueberzeugung, daß die Weisen allein zum Herrschen befähigt seien,
stützt sich auf die Voraussetzung, daß, wer "das sich immer gleich und auf
dieselbe Weise verhaltende zu erfassen vermag", auch am besten geeignet ist,
"der Staaten Gesetze und Bestrebungen aufrecht zu erhalten". Da das letztere
Aufgabe des Staatsleiters, das erstere die Eigenschaft des Philosophen ist, so
folgt, daß die Philosophen regieren müssen. Es braucht kaum wiederholt zu
werden, daß der platonische Philosoph nicht ein bloßer Denker und Gelehrter,
sondern vielmehr das Ideal des Staatsbürgers und Staatsmannes ist, der
durch alle praktischen Aufgaben eines solchen hindurchgegangen und zu allen
befähigt ist. Aber wie selten mußten solche Männer sein? Wie selten konnten
sie in Griechenland an die Spitze eines Staates gelangen, und wenn sie dahin
gelangt waren, sich behaupten? Der Einzige, der mit ähnlichen Eigenschaften
einen hellenischen Staat fünfzehn Jahre lang fast unumschränkt beherrscht hat,
war Perikles. Aber auch er konnte nicht daran denken, der athenischen Repu¬
blik den Charakter der Demokratie, sich selber den des Volksmandatars zu
nehmen.

Die Versuche, der Philosophie den ihr gebührenden Einfluß auf das
Staatsleben zu verschaffen, waren zu Platon's Zeit uicht ganz vereinzelt. Die
Bestrebungen der Sokratiker und Pythagoreer auf diesem Gebiete pflanzten sich


von denen, welche vom 20. bis zum 30. Lebensjahre neben den Waffenübungen
auch die Wissenschaften in allgemeiner Form betrieben haben, die zu den
niederen Staatsämtern geeigneten ausgeschieden worden sind, werden die philo¬
sophisch befähigtsten für den ersten Stand bestimmt. Fünf Jahre lang studiren
sie ausschließlich Philosophie. Vom 35. bis zum 50. Jahre bekleiden sie
Kommandos; dann treten sie in das regierende Kollegium und damit in die
höchste mögliche Ehrenstelle ein.

Auch unter ihnen herrscht vollständige Gleichheit. Auch sie leben gemein¬
sam, höchst einfach und werden, wie die Krieger, vom dritten Stande unter¬
halten. Ihre Hauptaufgabe ist die Betrachtung und die Erkenntniß der höchsten
Ideen. Abwechselnd verwalten sie die höchsten Staatsämter und sind in dieser
Stellung die absoluten Herren und Meister des Staats, ohne daß dies für sie
ein Gegenstand des Ehrgeizes oder auch nur der Befriedigung sein könnte.
Denn viel werthvoller ist für sie die edlere und schönere Thätigkeit der philo¬
sophischen Betrachtung, und sie sehen die Staatsverwaltung vielmehr als eine
schwere Pflicht an, die sie jedoch dem Staate schuldig sind, dafür, daß er sie
zur höchsten Vollkommenheit gebracht hat. „Der Staat," sagt Platon, „wird
dann im Wachen und nicht im Träumen verwaltet werden, wie jetzt die meisten
geleitet werden von solchen, die Spiegelfechterei mit einander treiben und um
die Herrschaft streiten, wie wenn sie ein großes Gut wäre."

Die Ueberzeugung, daß die Weisen allein zum Herrschen befähigt seien,
stützt sich auf die Voraussetzung, daß, wer „das sich immer gleich und auf
dieselbe Weise verhaltende zu erfassen vermag", auch am besten geeignet ist,
„der Staaten Gesetze und Bestrebungen aufrecht zu erhalten". Da das letztere
Aufgabe des Staatsleiters, das erstere die Eigenschaft des Philosophen ist, so
folgt, daß die Philosophen regieren müssen. Es braucht kaum wiederholt zu
werden, daß der platonische Philosoph nicht ein bloßer Denker und Gelehrter,
sondern vielmehr das Ideal des Staatsbürgers und Staatsmannes ist, der
durch alle praktischen Aufgaben eines solchen hindurchgegangen und zu allen
befähigt ist. Aber wie selten mußten solche Männer sein? Wie selten konnten
sie in Griechenland an die Spitze eines Staates gelangen, und wenn sie dahin
gelangt waren, sich behaupten? Der Einzige, der mit ähnlichen Eigenschaften
einen hellenischen Staat fünfzehn Jahre lang fast unumschränkt beherrscht hat,
war Perikles. Aber auch er konnte nicht daran denken, der athenischen Repu¬
blik den Charakter der Demokratie, sich selber den des Volksmandatars zu
nehmen.

Die Versuche, der Philosophie den ihr gebührenden Einfluß auf das
Staatsleben zu verschaffen, waren zu Platon's Zeit uicht ganz vereinzelt. Die
Bestrebungen der Sokratiker und Pythagoreer auf diesem Gebiete pflanzten sich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0460" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142415"/>
          <p xml:id="ID_1398" prev="#ID_1397"> von denen, welche vom 20. bis zum 30. Lebensjahre neben den Waffenübungen<lb/>
auch die Wissenschaften in allgemeiner Form betrieben haben, die zu den<lb/>
niederen Staatsämtern geeigneten ausgeschieden worden sind, werden die philo¬<lb/>
sophisch befähigtsten für den ersten Stand bestimmt. Fünf Jahre lang studiren<lb/>
sie ausschließlich Philosophie. Vom 35. bis zum 50. Jahre bekleiden sie<lb/>
Kommandos; dann treten sie in das regierende Kollegium und damit in die<lb/>
höchste mögliche Ehrenstelle ein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1399"> Auch unter ihnen herrscht vollständige Gleichheit. Auch sie leben gemein¬<lb/>
sam, höchst einfach und werden, wie die Krieger, vom dritten Stande unter¬<lb/>
halten. Ihre Hauptaufgabe ist die Betrachtung und die Erkenntniß der höchsten<lb/>
Ideen. Abwechselnd verwalten sie die höchsten Staatsämter und sind in dieser<lb/>
Stellung die absoluten Herren und Meister des Staats, ohne daß dies für sie<lb/>
ein Gegenstand des Ehrgeizes oder auch nur der Befriedigung sein könnte.<lb/>
Denn viel werthvoller ist für sie die edlere und schönere Thätigkeit der philo¬<lb/>
sophischen Betrachtung, und sie sehen die Staatsverwaltung vielmehr als eine<lb/>
schwere Pflicht an, die sie jedoch dem Staate schuldig sind, dafür, daß er sie<lb/>
zur höchsten Vollkommenheit gebracht hat. &#x201E;Der Staat," sagt Platon, &#x201E;wird<lb/>
dann im Wachen und nicht im Träumen verwaltet werden, wie jetzt die meisten<lb/>
geleitet werden von solchen, die Spiegelfechterei mit einander treiben und um<lb/>
die Herrschaft streiten, wie wenn sie ein großes Gut wäre."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1400"> Die Ueberzeugung, daß die Weisen allein zum Herrschen befähigt seien,<lb/>
stützt sich auf die Voraussetzung, daß, wer &#x201E;das sich immer gleich und auf<lb/>
dieselbe Weise verhaltende zu erfassen vermag", auch am besten geeignet ist,<lb/>
&#x201E;der Staaten Gesetze und Bestrebungen aufrecht zu erhalten". Da das letztere<lb/>
Aufgabe des Staatsleiters, das erstere die Eigenschaft des Philosophen ist, so<lb/>
folgt, daß die Philosophen regieren müssen. Es braucht kaum wiederholt zu<lb/>
werden, daß der platonische Philosoph nicht ein bloßer Denker und Gelehrter,<lb/>
sondern vielmehr das Ideal des Staatsbürgers und Staatsmannes ist, der<lb/>
durch alle praktischen Aufgaben eines solchen hindurchgegangen und zu allen<lb/>
befähigt ist. Aber wie selten mußten solche Männer sein? Wie selten konnten<lb/>
sie in Griechenland an die Spitze eines Staates gelangen, und wenn sie dahin<lb/>
gelangt waren, sich behaupten? Der Einzige, der mit ähnlichen Eigenschaften<lb/>
einen hellenischen Staat fünfzehn Jahre lang fast unumschränkt beherrscht hat,<lb/>
war Perikles. Aber auch er konnte nicht daran denken, der athenischen Repu¬<lb/>
blik den Charakter der Demokratie, sich selber den des Volksmandatars zu<lb/>
nehmen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1401" next="#ID_1402"> Die Versuche, der Philosophie den ihr gebührenden Einfluß auf das<lb/>
Staatsleben zu verschaffen, waren zu Platon's Zeit uicht ganz vereinzelt. Die<lb/>
Bestrebungen der Sokratiker und Pythagoreer auf diesem Gebiete pflanzten sich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0460] von denen, welche vom 20. bis zum 30. Lebensjahre neben den Waffenübungen auch die Wissenschaften in allgemeiner Form betrieben haben, die zu den niederen Staatsämtern geeigneten ausgeschieden worden sind, werden die philo¬ sophisch befähigtsten für den ersten Stand bestimmt. Fünf Jahre lang studiren sie ausschließlich Philosophie. Vom 35. bis zum 50. Jahre bekleiden sie Kommandos; dann treten sie in das regierende Kollegium und damit in die höchste mögliche Ehrenstelle ein. Auch unter ihnen herrscht vollständige Gleichheit. Auch sie leben gemein¬ sam, höchst einfach und werden, wie die Krieger, vom dritten Stande unter¬ halten. Ihre Hauptaufgabe ist die Betrachtung und die Erkenntniß der höchsten Ideen. Abwechselnd verwalten sie die höchsten Staatsämter und sind in dieser Stellung die absoluten Herren und Meister des Staats, ohne daß dies für sie ein Gegenstand des Ehrgeizes oder auch nur der Befriedigung sein könnte. Denn viel werthvoller ist für sie die edlere und schönere Thätigkeit der philo¬ sophischen Betrachtung, und sie sehen die Staatsverwaltung vielmehr als eine schwere Pflicht an, die sie jedoch dem Staate schuldig sind, dafür, daß er sie zur höchsten Vollkommenheit gebracht hat. „Der Staat," sagt Platon, „wird dann im Wachen und nicht im Träumen verwaltet werden, wie jetzt die meisten geleitet werden von solchen, die Spiegelfechterei mit einander treiben und um die Herrschaft streiten, wie wenn sie ein großes Gut wäre." Die Ueberzeugung, daß die Weisen allein zum Herrschen befähigt seien, stützt sich auf die Voraussetzung, daß, wer „das sich immer gleich und auf dieselbe Weise verhaltende zu erfassen vermag", auch am besten geeignet ist, „der Staaten Gesetze und Bestrebungen aufrecht zu erhalten". Da das letztere Aufgabe des Staatsleiters, das erstere die Eigenschaft des Philosophen ist, so folgt, daß die Philosophen regieren müssen. Es braucht kaum wiederholt zu werden, daß der platonische Philosoph nicht ein bloßer Denker und Gelehrter, sondern vielmehr das Ideal des Staatsbürgers und Staatsmannes ist, der durch alle praktischen Aufgaben eines solchen hindurchgegangen und zu allen befähigt ist. Aber wie selten mußten solche Männer sein? Wie selten konnten sie in Griechenland an die Spitze eines Staates gelangen, und wenn sie dahin gelangt waren, sich behaupten? Der Einzige, der mit ähnlichen Eigenschaften einen hellenischen Staat fünfzehn Jahre lang fast unumschränkt beherrscht hat, war Perikles. Aber auch er konnte nicht daran denken, der athenischen Repu¬ blik den Charakter der Demokratie, sich selber den des Volksmandatars zu nehmen. Die Versuche, der Philosophie den ihr gebührenden Einfluß auf das Staatsleben zu verschaffen, waren zu Platon's Zeit uicht ganz vereinzelt. Die Bestrebungen der Sokratiker und Pythagoreer auf diesem Gebiete pflanzten sich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/460
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/460>, abgerufen am 20.10.2024.