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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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als der Kernpunkt und der charakteristischste Theil seiner Philosophie betrachtet.
Von der Idee ging Alles bei ihm aus.

Dies erklärt auch sein politisches System. Im Einklange mit der Existenz-
Priorität, die er den Ideen zuschrieb, nahm er an, daß die Idee des Staates
vor dem Staate existirt habe, und zwar in vollster Harmonie mit der ganzen
übrigen Ideenwelt. Ein guter Staat muß in möglichstem Einklange mit der
Idee stehen, der er seine Genesis verdankt, und von der er ein sichtbares Abbild
sein soll. Diesen Einklang entdeckte Platon in keinem der bestehenden Staats¬
wesen; im Gegentheil schienen ihm alle nur Zerrbilder zu sein, in denen ein
Weiser nicht die geringste Befriedigung finden könne. Alle geltenden Verfas¬
sungen schienen ihm so verwerflich und verbesserungsunfähig, daß er glaubte,
sich von jeder Theilnahme am politischen Leben fern halten zu müssen, und
nur in einer vollständigen Neuordnung ein Heil sah. Er selbst stellte den bis
in's kleinste durchgeführten Entwurf eines Jdealstaates auf, der niemals reali-
sirt worden ist, aber trotzdem eins der interessantesten Vermächtnisse des Alter¬
thums bildet, und dies nicht nur, weil er uns die Ansicht eines der Weisesten
über den Staat und die Staaten vor Augen stellt, sondern anch weil er zeigt,
wie leicht in einem derartigen theoretischen Entwurf die erstaunlichsten Utopieen
neben praktisch bewährten, der Wirklichkeit entlehnten, sowie erst nach langer
Zeit zur Reife gedeihenden und in's Leben tretenden Elementen Platz finden.
Im Großen und Ganzen wird Jeder den platonischen Staat als utopisch
erkennen. Dies hindert nicht, daß viele seiner Ideen in der Folge -- nament¬
lich in der katholischen Hierarchie -- zur Ausführung gekommen sind, und
ebensowenig, daß viele thatsächlich bestehende Einrichtungen verschiedener grie¬
chischer Staaten in ihm Platz gefunden haben.

Der platonische Idealstaat hat außer mit der katholischen Hierarchie keine
Analogie mit irgend einer geschichtlichen Verfassungsform, sodaß man ihn
unmöglich unter eine der bekannten Kategorieen bringen kann. Müßte man
ihm eine generelle Bezeichnung geben, so wäre vielleicht die einer "aristokrati¬
schen Sozial-Republik" die geeignetste. Was an sozialistischen Elementen in
den griechischen Verfassungen seiner Zeit vorhanden war, hat Platon zum
größten Theil in seinen Entwurf aufgenommen, und man hat an ihm eine
bequeme Uebersicht derartiger Verfassungsnormen.

Verfassungsbestimmungen, die wir als sozialistische bezeichnen können, sind
in den hellenischen Staaten keineswegs erst mit dem Emporkommen der Demo¬
kratie aufgetreten. Der radikalste sozialistische Grundsatz ist der. daß das
Interesse der Staatsgemeinde selbst dem allerersten der Natur- und Menschen¬
rechte, dem Rechte auf Existenz, vorangesetzt wird. Dieser Grundsatz hat von
Alters her in Griechenland ganz allgemein gegolten. Die Kinderaussetznng ist,


als der Kernpunkt und der charakteristischste Theil seiner Philosophie betrachtet.
Von der Idee ging Alles bei ihm aus.

Dies erklärt auch sein politisches System. Im Einklange mit der Existenz-
Priorität, die er den Ideen zuschrieb, nahm er an, daß die Idee des Staates
vor dem Staate existirt habe, und zwar in vollster Harmonie mit der ganzen
übrigen Ideenwelt. Ein guter Staat muß in möglichstem Einklange mit der
Idee stehen, der er seine Genesis verdankt, und von der er ein sichtbares Abbild
sein soll. Diesen Einklang entdeckte Platon in keinem der bestehenden Staats¬
wesen; im Gegentheil schienen ihm alle nur Zerrbilder zu sein, in denen ein
Weiser nicht die geringste Befriedigung finden könne. Alle geltenden Verfas¬
sungen schienen ihm so verwerflich und verbesserungsunfähig, daß er glaubte,
sich von jeder Theilnahme am politischen Leben fern halten zu müssen, und
nur in einer vollständigen Neuordnung ein Heil sah. Er selbst stellte den bis
in's kleinste durchgeführten Entwurf eines Jdealstaates auf, der niemals reali-
sirt worden ist, aber trotzdem eins der interessantesten Vermächtnisse des Alter¬
thums bildet, und dies nicht nur, weil er uns die Ansicht eines der Weisesten
über den Staat und die Staaten vor Augen stellt, sondern anch weil er zeigt,
wie leicht in einem derartigen theoretischen Entwurf die erstaunlichsten Utopieen
neben praktisch bewährten, der Wirklichkeit entlehnten, sowie erst nach langer
Zeit zur Reife gedeihenden und in's Leben tretenden Elementen Platz finden.
Im Großen und Ganzen wird Jeder den platonischen Staat als utopisch
erkennen. Dies hindert nicht, daß viele seiner Ideen in der Folge — nament¬
lich in der katholischen Hierarchie — zur Ausführung gekommen sind, und
ebensowenig, daß viele thatsächlich bestehende Einrichtungen verschiedener grie¬
chischer Staaten in ihm Platz gefunden haben.

Der platonische Idealstaat hat außer mit der katholischen Hierarchie keine
Analogie mit irgend einer geschichtlichen Verfassungsform, sodaß man ihn
unmöglich unter eine der bekannten Kategorieen bringen kann. Müßte man
ihm eine generelle Bezeichnung geben, so wäre vielleicht die einer „aristokrati¬
schen Sozial-Republik" die geeignetste. Was an sozialistischen Elementen in
den griechischen Verfassungen seiner Zeit vorhanden war, hat Platon zum
größten Theil in seinen Entwurf aufgenommen, und man hat an ihm eine
bequeme Uebersicht derartiger Verfassungsnormen.

Verfassungsbestimmungen, die wir als sozialistische bezeichnen können, sind
in den hellenischen Staaten keineswegs erst mit dem Emporkommen der Demo¬
kratie aufgetreten. Der radikalste sozialistische Grundsatz ist der. daß das
Interesse der Staatsgemeinde selbst dem allerersten der Natur- und Menschen¬
rechte, dem Rechte auf Existenz, vorangesetzt wird. Dieser Grundsatz hat von
Alters her in Griechenland ganz allgemein gegolten. Die Kinderaussetznng ist,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/432>, abgerufen am 27.09.2024.