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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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die reformirende Hand angelegt. Jetzt erscholl von den Kathedern der Sophisten
der Ruf, daß der ganze Bau ein Werk des Unverstandes und des Übeln
Willens sei und deshalb einem neuen Platz machen müsse. Die Forderung
Positiver Vorschläge für eine Neugestaltung würde sie freilich in große Ver¬
legenheit gesetzt haben, wenn nicht eben das sophistische Grundprinzip über
Alles hinweggeholfen hätte. "Wie einem Jeden ein Jegliches scheint, so ist
es", würden sie geantwortet haben; "richtet euren Staat ein, wie ihr wollt, er
wird immer nur für den gut sein, dem er gut scheint". Wie schon bemerkt,
soll der älteste der Sophisten. Protagoras, für die ätherische Kolonie Thurioi
die Gesetze ausgearbeitet haben. Gorgias erklärte es für naturwidrig, daß die
Differenz der Staaten und ihrer Gesetze die Menschen trenne und entfremde,
die doch von Natur alle verwandt seien; er ist also als der erste Jnternatio-
ualist anzusehen. Auch erschien ihm die Verschiedenheit und Wandelbarkeit der
Gesetze als ein starkes Argument gegen ihre Hochschätzung.

Sokrates ist ein Anhänger der Sophisten "in der Tendenz einer Verselb-
ständigung des Einzelnen und in dem gemeinsamen Gegensatze gegen eine un¬
mittelbare, reflexionslose Hingebung an die Sitte, das Gesetz und den Glauben
seines Volkes und Staates"; aber er unterscheidet sich, was seine Ankläger und
Richter außer Acht gelassen haben, von den Sophisten entschieden dadurch, daß
er eine ewige und objektive Wahrheit anerkannte und die Moral neu und tiefer
zu begründen suchte, indem er sie mit der Vernunft in Einklang setzte. Die
Einheit zwischen vernünftiger Einsicht und sittlicher Thätigkeit zu erweisen,
machte er sich zur Lebensaufgabe. Das Gute war ihm mit dem Schönen und
Nützlichen identisch; das Glück sah er lediglich im tngendgemäßen Handeln.
Daher legte er der Staatsform keinen bedeutenden Werth bei und hielt sich,
wenngleich er seine Bürgerpflichten auf's gewissenhafteste erfüllte, von politi¬
scher Thätigkeit fern. Sein politischer Grundgedanke war der, daß dem Ein¬
sichtigen die Herrschaft gebühre, weshalb er die Ernennung der Beamten durch
Loos und allgemeine Volkswahl tadelte.

Auch Sokrates' größter Schüler. Platon, stand auf dem Boden der Unab¬
hängigkeit von herkömmlichen Satzungen und der Souveränetüt des menschlichen
Geistes. Er, dem es beschieden war, die sämmtlichen vorangegangenen Rich¬
tungen der philosophischen Entwickelung zusammenzufassen und zum Abschluß
zu bringen, machte sein philosophisches Denken von aller und jeder Beeinflus¬
sung seitens der Außenwelt und der gegebenen Verhältnisse frei, erhob sich
über die Schranken von Raum u?d Zeit und konstruirte sich ebensowohl die
Ethik als die Logik und Physik rein und ausschließlich nach der Idee. Nicht
mit Unrecht wird unter allen von Platon behandelten Disziplinen seine Jdeenlehre


die reformirende Hand angelegt. Jetzt erscholl von den Kathedern der Sophisten
der Ruf, daß der ganze Bau ein Werk des Unverstandes und des Übeln
Willens sei und deshalb einem neuen Platz machen müsse. Die Forderung
Positiver Vorschläge für eine Neugestaltung würde sie freilich in große Ver¬
legenheit gesetzt haben, wenn nicht eben das sophistische Grundprinzip über
Alles hinweggeholfen hätte. „Wie einem Jeden ein Jegliches scheint, so ist
es", würden sie geantwortet haben; „richtet euren Staat ein, wie ihr wollt, er
wird immer nur für den gut sein, dem er gut scheint". Wie schon bemerkt,
soll der älteste der Sophisten. Protagoras, für die ätherische Kolonie Thurioi
die Gesetze ausgearbeitet haben. Gorgias erklärte es für naturwidrig, daß die
Differenz der Staaten und ihrer Gesetze die Menschen trenne und entfremde,
die doch von Natur alle verwandt seien; er ist also als der erste Jnternatio-
ualist anzusehen. Auch erschien ihm die Verschiedenheit und Wandelbarkeit der
Gesetze als ein starkes Argument gegen ihre Hochschätzung.

Sokrates ist ein Anhänger der Sophisten „in der Tendenz einer Verselb-
ständigung des Einzelnen und in dem gemeinsamen Gegensatze gegen eine un¬
mittelbare, reflexionslose Hingebung an die Sitte, das Gesetz und den Glauben
seines Volkes und Staates"; aber er unterscheidet sich, was seine Ankläger und
Richter außer Acht gelassen haben, von den Sophisten entschieden dadurch, daß
er eine ewige und objektive Wahrheit anerkannte und die Moral neu und tiefer
zu begründen suchte, indem er sie mit der Vernunft in Einklang setzte. Die
Einheit zwischen vernünftiger Einsicht und sittlicher Thätigkeit zu erweisen,
machte er sich zur Lebensaufgabe. Das Gute war ihm mit dem Schönen und
Nützlichen identisch; das Glück sah er lediglich im tngendgemäßen Handeln.
Daher legte er der Staatsform keinen bedeutenden Werth bei und hielt sich,
wenngleich er seine Bürgerpflichten auf's gewissenhafteste erfüllte, von politi¬
scher Thätigkeit fern. Sein politischer Grundgedanke war der, daß dem Ein¬
sichtigen die Herrschaft gebühre, weshalb er die Ernennung der Beamten durch
Loos und allgemeine Volkswahl tadelte.

Auch Sokrates' größter Schüler. Platon, stand auf dem Boden der Unab¬
hängigkeit von herkömmlichen Satzungen und der Souveränetüt des menschlichen
Geistes. Er, dem es beschieden war, die sämmtlichen vorangegangenen Rich¬
tungen der philosophischen Entwickelung zusammenzufassen und zum Abschluß
zu bringen, machte sein philosophisches Denken von aller und jeder Beeinflus¬
sung seitens der Außenwelt und der gegebenen Verhältnisse frei, erhob sich
über die Schranken von Raum u?d Zeit und konstruirte sich ebensowohl die
Ethik als die Logik und Physik rein und ausschließlich nach der Idee. Nicht
mit Unrecht wird unter allen von Platon behandelten Disziplinen seine Jdeenlehre


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[0431] die reformirende Hand angelegt. Jetzt erscholl von den Kathedern der Sophisten der Ruf, daß der ganze Bau ein Werk des Unverstandes und des Übeln Willens sei und deshalb einem neuen Platz machen müsse. Die Forderung Positiver Vorschläge für eine Neugestaltung würde sie freilich in große Ver¬ legenheit gesetzt haben, wenn nicht eben das sophistische Grundprinzip über Alles hinweggeholfen hätte. „Wie einem Jeden ein Jegliches scheint, so ist es", würden sie geantwortet haben; „richtet euren Staat ein, wie ihr wollt, er wird immer nur für den gut sein, dem er gut scheint". Wie schon bemerkt, soll der älteste der Sophisten. Protagoras, für die ätherische Kolonie Thurioi die Gesetze ausgearbeitet haben. Gorgias erklärte es für naturwidrig, daß die Differenz der Staaten und ihrer Gesetze die Menschen trenne und entfremde, die doch von Natur alle verwandt seien; er ist also als der erste Jnternatio- ualist anzusehen. Auch erschien ihm die Verschiedenheit und Wandelbarkeit der Gesetze als ein starkes Argument gegen ihre Hochschätzung. Sokrates ist ein Anhänger der Sophisten „in der Tendenz einer Verselb- ständigung des Einzelnen und in dem gemeinsamen Gegensatze gegen eine un¬ mittelbare, reflexionslose Hingebung an die Sitte, das Gesetz und den Glauben seines Volkes und Staates"; aber er unterscheidet sich, was seine Ankläger und Richter außer Acht gelassen haben, von den Sophisten entschieden dadurch, daß er eine ewige und objektive Wahrheit anerkannte und die Moral neu und tiefer zu begründen suchte, indem er sie mit der Vernunft in Einklang setzte. Die Einheit zwischen vernünftiger Einsicht und sittlicher Thätigkeit zu erweisen, machte er sich zur Lebensaufgabe. Das Gute war ihm mit dem Schönen und Nützlichen identisch; das Glück sah er lediglich im tngendgemäßen Handeln. Daher legte er der Staatsform keinen bedeutenden Werth bei und hielt sich, wenngleich er seine Bürgerpflichten auf's gewissenhafteste erfüllte, von politi¬ scher Thätigkeit fern. Sein politischer Grundgedanke war der, daß dem Ein¬ sichtigen die Herrschaft gebühre, weshalb er die Ernennung der Beamten durch Loos und allgemeine Volkswahl tadelte. Auch Sokrates' größter Schüler. Platon, stand auf dem Boden der Unab¬ hängigkeit von herkömmlichen Satzungen und der Souveränetüt des menschlichen Geistes. Er, dem es beschieden war, die sämmtlichen vorangegangenen Rich¬ tungen der philosophischen Entwickelung zusammenzufassen und zum Abschluß zu bringen, machte sein philosophisches Denken von aller und jeder Beeinflus¬ sung seitens der Außenwelt und der gegebenen Verhältnisse frei, erhob sich über die Schranken von Raum u?d Zeit und konstruirte sich ebensowohl die Ethik als die Logik und Physik rein und ausschließlich nach der Idee. Nicht mit Unrecht wird unter allen von Platon behandelten Disziplinen seine Jdeenlehre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/431>, abgerufen am 27.09.2024.