Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.wenn auch nicht immer ohne Einschränkung geübt, doch stets als berechtigt Eins der wichtigsten Interessen des Staates ist die Erhaltung einer tüch¬ Grenzboten II. 1879. Su
wenn auch nicht immer ohne Einschränkung geübt, doch stets als berechtigt Eins der wichtigsten Interessen des Staates ist die Erhaltung einer tüch¬ Grenzboten II. 1879. Su
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0433" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142388"/> <p xml:id="ID_1323" prev="#ID_1322"> wenn auch nicht immer ohne Einschränkung geübt, doch stets als berechtigt<lb/> angesehen worden. Das Kind, von welchem sür die Familie und die Gemeinde<lb/> kein Nutzen oder gar ein Nachtheil zu erwarten war, hatte kein Recht auf das<lb/> Leben; es konnte unbedenklich der Vernichtung preisgegeben werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1324"> Eins der wichtigsten Interessen des Staates ist die Erhaltung einer tüch¬<lb/> tigen Bevölkerung. Deshalb war es allgemein anerkannt, daß auch die Ehe¬<lb/> schließung und Kindererzeugung und -Erziehung unter die Aufsicht des Staates<lb/> fallen müsse, und nur in dem Grade und der Art der Kontrole finden sich<lb/> Verschiedenheiten; Sparta war der Staat, welcher dieser Frage, soviel wir<lb/> wissen, die meiste Sorgfalt zuwendete. Der spartanische Bürger war verpflichtet,<lb/> zu heirathen, wenn er im Besitze eines Hausstandes war, und die Vernach¬<lb/> lässigung dieser Pflicht wurde mit Entziehung von Ehrenrechten bestraft. Damit<lb/> acht genug, schritt der Staat auch gegen zu späte und gegen unpassende Ehen<lb/> ein und verlangte die Erfüllung des Zweckes der Ehe. Kinderlose Ehen mußten<lb/> getrennt werden. Der König Anaxandridas sollte sein kinderlose Frau ver¬<lb/> stoßen und mußte, als er sich dazu nicht verstehen wollte, im öffentlichen<lb/> Interesse eine zweite dazunehmen. Der König Aristodemvs wurde von den<lb/> Ephoren getadelt, weil er eine Fran von kleiner Statur geheirathet hatte, von<lb/> der zu befürchten stand, daß ihre Nachkommen mit körperlichen Mängeln be¬<lb/> haftet sein könnten, was sich bei der Geburt des Agesilaos in gewissem Sinne<lb/> bestätigte. Im ersten messenischen Kriege wurden, weil bei dem großen Verluste<lb/> an Männern viele Häuser einzugehen drohten, den kinderlosen Wittwen und<lb/> unverheiratheten Töchtern Heloten beigesellt, aus welchen Verbindungen die<lb/> Parthenier hervorgingen. Platon treibt das Prinzip auf die Spitze. Für ihn<lb/> ist der Staat eine große Zuchtanstalt, in welcher nur der allgemeine Nutzen<lb/> für die eheliche Vereinigung maßgebend ist. Unter den Männern vom 30. bis<lb/> zum 55. Lebensjahre und den Weibern vom 20. bis 40. Lebensjahre wird nur<lb/> den schönen und kräftigen die Vereinigung miteinander gestattet. Unschöne<lb/> und schwächliche Männer dürfen nur mit ebensolchen Weibern verkehren. Nur<lb/> gesunde und wohlgebildete Kinder werden aufgezogen; die von schlechten Eltern<lb/> oder mit Fehlern geborenen werden ausgesetzt. Letztere Bestimmung war direkt<lb/> der spartanischen Sitte entnommen, nach welcher eine aus den Aeltesten der<lb/> Phyle bestehende Kommission darüber entschied, ob ein neugebornes aufzuziehen<lb/> "der am Taygetos auszusetzen sei. In den kretischen Staaten müssen analoge<lb/> Bestimmungen über die Verbindung der Geschlechter und die Erziehung des<lb/> bürgerlichen Nachwuchses geherrscht haben. In Athen brachte es die größere<lb/> individuelle Freiheit gegenüber der staatlichen Bevormundung mit sich, daß die<lb/> Aufziehung oder Aussetzung der Kinder wenigstens in das Belieben der Eltern<lb/> gestellt ward, und die wachsende Humanität machte die Aussetzung immer seltener.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1879. Su</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0433]
wenn auch nicht immer ohne Einschränkung geübt, doch stets als berechtigt
angesehen worden. Das Kind, von welchem sür die Familie und die Gemeinde
kein Nutzen oder gar ein Nachtheil zu erwarten war, hatte kein Recht auf das
Leben; es konnte unbedenklich der Vernichtung preisgegeben werden.
Eins der wichtigsten Interessen des Staates ist die Erhaltung einer tüch¬
tigen Bevölkerung. Deshalb war es allgemein anerkannt, daß auch die Ehe¬
schließung und Kindererzeugung und -Erziehung unter die Aufsicht des Staates
fallen müsse, und nur in dem Grade und der Art der Kontrole finden sich
Verschiedenheiten; Sparta war der Staat, welcher dieser Frage, soviel wir
wissen, die meiste Sorgfalt zuwendete. Der spartanische Bürger war verpflichtet,
zu heirathen, wenn er im Besitze eines Hausstandes war, und die Vernach¬
lässigung dieser Pflicht wurde mit Entziehung von Ehrenrechten bestraft. Damit
acht genug, schritt der Staat auch gegen zu späte und gegen unpassende Ehen
ein und verlangte die Erfüllung des Zweckes der Ehe. Kinderlose Ehen mußten
getrennt werden. Der König Anaxandridas sollte sein kinderlose Frau ver¬
stoßen und mußte, als er sich dazu nicht verstehen wollte, im öffentlichen
Interesse eine zweite dazunehmen. Der König Aristodemvs wurde von den
Ephoren getadelt, weil er eine Fran von kleiner Statur geheirathet hatte, von
der zu befürchten stand, daß ihre Nachkommen mit körperlichen Mängeln be¬
haftet sein könnten, was sich bei der Geburt des Agesilaos in gewissem Sinne
bestätigte. Im ersten messenischen Kriege wurden, weil bei dem großen Verluste
an Männern viele Häuser einzugehen drohten, den kinderlosen Wittwen und
unverheiratheten Töchtern Heloten beigesellt, aus welchen Verbindungen die
Parthenier hervorgingen. Platon treibt das Prinzip auf die Spitze. Für ihn
ist der Staat eine große Zuchtanstalt, in welcher nur der allgemeine Nutzen
für die eheliche Vereinigung maßgebend ist. Unter den Männern vom 30. bis
zum 55. Lebensjahre und den Weibern vom 20. bis 40. Lebensjahre wird nur
den schönen und kräftigen die Vereinigung miteinander gestattet. Unschöne
und schwächliche Männer dürfen nur mit ebensolchen Weibern verkehren. Nur
gesunde und wohlgebildete Kinder werden aufgezogen; die von schlechten Eltern
oder mit Fehlern geborenen werden ausgesetzt. Letztere Bestimmung war direkt
der spartanischen Sitte entnommen, nach welcher eine aus den Aeltesten der
Phyle bestehende Kommission darüber entschied, ob ein neugebornes aufzuziehen
"der am Taygetos auszusetzen sei. In den kretischen Staaten müssen analoge
Bestimmungen über die Verbindung der Geschlechter und die Erziehung des
bürgerlichen Nachwuchses geherrscht haben. In Athen brachte es die größere
individuelle Freiheit gegenüber der staatlichen Bevormundung mit sich, daß die
Aufziehung oder Aussetzung der Kinder wenigstens in das Belieben der Eltern
gestellt ward, und die wachsende Humanität machte die Aussetzung immer seltener.
Grenzboten II. 1879. Su
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