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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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osmanische Reich und als eine Defensivfront desselben, beging die britische Politik
bei Einleitung der Unterhandlungen, die, zunächst auf die Erwerbung der Insel
Cypern bezugnehmend, die schließliche Unterstellung der asiatischen Türkei
unter das britische Protektorat als Endziel verfolgten. Was man in der
denkwürdigen, vor Jahresfrist (Mai 1878) anhebenden und gegen Ende vorigen
Jahres (Dezember 1878) abschließenden Negoziation über die im osmanischen
Reiche unter den Auspizien England's einzuführenden Reformen erstrebte, unter¬
schied sich sehr wesentlich von alledem, was die britische Politik bis dahin sich
vorgesetzt hatte, wie es denn auch von dem anderen durchaus verschieden sein
dürfte, was sie seitdem sich zur Aufgabe stellte. Lord Beciconsfield ließ sich
von seiner lebhaften Einbildungskraft nichts Geringeres vorspiegeln, als die
Möglichkeit, den Sultan der Osmanen und Chef des Islam auf den Stand-
Punkt eines indobritischen Vasallenfürsten herabzudrücken. Einem solchen Plane
gegenüber mußte unausbleiblich das türkische Selbstgefühl und der musel¬
manische Stolz elastisch emporschnellen. Befremden darf es einigermaßen, daß
von der englischen Oppositionspresse die allerschwerste Berirrung, in welche
damals das englische auswärtige Amt hineingerathen war, nicht in ausreichen¬
der und gebührender Weise hervorgehoben worden ist. Die Erklärung dafür
dürfte darin zu suchen sein, daß an dem bezüglichen Rechnungsfehler nicht die
beiden leitenden Lords, Beaconssield und Salisbury, ja die Tory-Partei selber
nicht ausschließlich die Schuld tragen, sondern daß sie dieselbe mit der um jene
Zeit erregten und sich übertriebenen Erwartungen hingebenden ganzen britischen
Nation zu theilen haben. Namentlich hatte anfänglich über den reellen Werth
der Erwerbung der Insel Cypern für England das britische Volk im All¬
gemeinen sich durchaus falschen und viel zu weit gehenden Voraussetzungen
überlassen. Niemand schien in den Juli-Tagen des vorigen Jahres eine
Ahnung davon zu haben, daß dem Vertrage vom 4. Juni ein höherer Werth
nicht inne wohne, und daß er im Grunde genommen die Bestimmung haben
dürfte, eine taube Nuß zu bleiben. Allerdings hatte er Folgen und selbst
ziemlich weit reichende. Allein dieselben sollten nicht entfernt den britischen
Interessen zu statten kommen, sondern sich ganz im Gegentheil mit Ent¬
schiedenheit wider dieselben wenden.

Für diese unerwartete Wandlung in der Gestaltung der türkisch-britischen
Beziehungen ist es entscheidend geworden, daß Frankreich bereits im Januar
1878 einen damals, mindestens im Auslande, noch ungekannten oder doch nicht
nach Gebühr gewürdigten, wenn auch neuerdings über Verdienst hinaus in
der öffentlichen Meinung erhobenen Staatsmann von unbestreitbar großer und
hervorragender Befähigung nach Konstantinopel gesendet hatte. Henry Four-
mer, obgleich damals im Grunde genommen noch Neuling auf dem Felde der


osmanische Reich und als eine Defensivfront desselben, beging die britische Politik
bei Einleitung der Unterhandlungen, die, zunächst auf die Erwerbung der Insel
Cypern bezugnehmend, die schließliche Unterstellung der asiatischen Türkei
unter das britische Protektorat als Endziel verfolgten. Was man in der
denkwürdigen, vor Jahresfrist (Mai 1878) anhebenden und gegen Ende vorigen
Jahres (Dezember 1878) abschließenden Negoziation über die im osmanischen
Reiche unter den Auspizien England's einzuführenden Reformen erstrebte, unter¬
schied sich sehr wesentlich von alledem, was die britische Politik bis dahin sich
vorgesetzt hatte, wie es denn auch von dem anderen durchaus verschieden sein
dürfte, was sie seitdem sich zur Aufgabe stellte. Lord Beciconsfield ließ sich
von seiner lebhaften Einbildungskraft nichts Geringeres vorspiegeln, als die
Möglichkeit, den Sultan der Osmanen und Chef des Islam auf den Stand-
Punkt eines indobritischen Vasallenfürsten herabzudrücken. Einem solchen Plane
gegenüber mußte unausbleiblich das türkische Selbstgefühl und der musel¬
manische Stolz elastisch emporschnellen. Befremden darf es einigermaßen, daß
von der englischen Oppositionspresse die allerschwerste Berirrung, in welche
damals das englische auswärtige Amt hineingerathen war, nicht in ausreichen¬
der und gebührender Weise hervorgehoben worden ist. Die Erklärung dafür
dürfte darin zu suchen sein, daß an dem bezüglichen Rechnungsfehler nicht die
beiden leitenden Lords, Beaconssield und Salisbury, ja die Tory-Partei selber
nicht ausschließlich die Schuld tragen, sondern daß sie dieselbe mit der um jene
Zeit erregten und sich übertriebenen Erwartungen hingebenden ganzen britischen
Nation zu theilen haben. Namentlich hatte anfänglich über den reellen Werth
der Erwerbung der Insel Cypern für England das britische Volk im All¬
gemeinen sich durchaus falschen und viel zu weit gehenden Voraussetzungen
überlassen. Niemand schien in den Juli-Tagen des vorigen Jahres eine
Ahnung davon zu haben, daß dem Vertrage vom 4. Juni ein höherer Werth
nicht inne wohne, und daß er im Grunde genommen die Bestimmung haben
dürfte, eine taube Nuß zu bleiben. Allerdings hatte er Folgen und selbst
ziemlich weit reichende. Allein dieselben sollten nicht entfernt den britischen
Interessen zu statten kommen, sondern sich ganz im Gegentheil mit Ent¬
schiedenheit wider dieselben wenden.

Für diese unerwartete Wandlung in der Gestaltung der türkisch-britischen
Beziehungen ist es entscheidend geworden, daß Frankreich bereits im Januar
1878 einen damals, mindestens im Auslande, noch ungekannten oder doch nicht
nach Gebühr gewürdigten, wenn auch neuerdings über Verdienst hinaus in
der öffentlichen Meinung erhobenen Staatsmann von unbestreitbar großer und
hervorragender Befähigung nach Konstantinopel gesendet hatte. Henry Four-
mer, obgleich damals im Grunde genommen noch Neuling auf dem Felde der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/295>, abgerufen am 27.09.2024.