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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Politik der drei europäischen Ostmächte mit Entschiedenheit entgegen zu treten;
auch der dabei gleich anfangs und in den nachfolgenden Jahren geerntete
entschiedene Mißerfolg ist nicht im Stande gewesen, die britische Politik auf
die Grundlage Verzicht leisten zu lassen, auf der sie von allem Anfang an
Stellung genommen hatte, wie schwankend und unsicher dieselbe auch seitdem
geworden war. Eine der charakteristischsten Eigenheiten britischer Staatsmänner
besteht, neben den Schwankungen, denen sie beim Verfolgen ihrer Aufgaben
unterliegen, und deren ich in Bezug auf das heutige Kabinet und dessen orien¬
talische Politik bereits Erwähnung gethan habe, in einer gewissen Ehrfurcht vor
dem, was seither bestanden hat, mag es auch aus der Rumpelkammer längst
ausgelebter Zeiten stammen, und in der Zähigkeit, mit der sie daran festhalten.,
Nachdem die Länder im Norden des Balkan's definitiv für die Pforte verloren
gegangen waren, wollte das Londoner Kabinet mindestens diese Gebirgskette
als eine nicht nur politische, sondern namentlich zugleich militärische Grenze
des osmanischen Reiches gewahrt wissen. Es handelte sich mithin, im recht
eigentlichen Sinne, um das Festhalten einer türkischen Vertheidigungsfront.
Dabei ließ man sich durch die Ueberlegung bestimmen und leiten, daß die os¬
manischen Besitzungen nicht füglich auf einen geringeren Raumumfang reduzirt
werden könnten, ohne daß sich gleichzeitig und in unmittelbarer Folge davon
in der betreffenden Weltgegend die Sphäre des dominirenden englischen Ein¬
flusses und der entschiedenen Geltung des britischen Prestige's ebenfalls ver¬
enge. In diesem Falle haben wir, ähnlich wie in der Angelegenheit der dnrch
die Pforte vertragsmäßig an Rußland zu leistenden Kriegsentschädigung, noch
einmal eine erwiesene Unmöglichkeit vor uns, doch mit dem Unterschiede, daß
die Illusion sich nicht wird auf längere Dauer aufrecht erhalten lassen, weil
andere, den britischen entgegenlaufende Interessen darauf angewiesen sind, den
Thatsachen zu ihrem Reckte zu verhelfen. Ich nehme Anstand, hier auf die
Details einzugehen. Die in Rede stehende Frage macht den Gegenstand von
Verhandlungen aus, die, augenscheinlich noch nicht zum Schluß gediehen, sich
gleichwohl demselben nähern. Hier wird und muß England schließlich nach¬
geben, wenn es nicht in unüberlegter und nicht zu rechtfertigender Weise auf's
neue schwere Verwickelungen heraufbeschwören will. Daß eine solche Gefahr
thatsächlich noch besteht, ist indeß kaum wahrscheinlich, vielmehr macht Alles,
was man jüngst beobachten konnte, den Eindruck, als ob die beiden rivalistrenden
Kabinette, das Londoner und das Se. Petersburger, am Vorabend eines^Kom-
promisses ständen, dessen endliches Zustandekommen nicht verfehlen kann, be¬
ruhigend auf die allgemeine Lage einzuwirken.

Einen viel bedeutenderen und in seinen Konsequenzen weiter reichenden
Mißgriff, als bei Aufstellung der Balkan-Linie als neue Grenze für das


Politik der drei europäischen Ostmächte mit Entschiedenheit entgegen zu treten;
auch der dabei gleich anfangs und in den nachfolgenden Jahren geerntete
entschiedene Mißerfolg ist nicht im Stande gewesen, die britische Politik auf
die Grundlage Verzicht leisten zu lassen, auf der sie von allem Anfang an
Stellung genommen hatte, wie schwankend und unsicher dieselbe auch seitdem
geworden war. Eine der charakteristischsten Eigenheiten britischer Staatsmänner
besteht, neben den Schwankungen, denen sie beim Verfolgen ihrer Aufgaben
unterliegen, und deren ich in Bezug auf das heutige Kabinet und dessen orien¬
talische Politik bereits Erwähnung gethan habe, in einer gewissen Ehrfurcht vor
dem, was seither bestanden hat, mag es auch aus der Rumpelkammer längst
ausgelebter Zeiten stammen, und in der Zähigkeit, mit der sie daran festhalten.,
Nachdem die Länder im Norden des Balkan's definitiv für die Pforte verloren
gegangen waren, wollte das Londoner Kabinet mindestens diese Gebirgskette
als eine nicht nur politische, sondern namentlich zugleich militärische Grenze
des osmanischen Reiches gewahrt wissen. Es handelte sich mithin, im recht
eigentlichen Sinne, um das Festhalten einer türkischen Vertheidigungsfront.
Dabei ließ man sich durch die Ueberlegung bestimmen und leiten, daß die os¬
manischen Besitzungen nicht füglich auf einen geringeren Raumumfang reduzirt
werden könnten, ohne daß sich gleichzeitig und in unmittelbarer Folge davon
in der betreffenden Weltgegend die Sphäre des dominirenden englischen Ein¬
flusses und der entschiedenen Geltung des britischen Prestige's ebenfalls ver¬
enge. In diesem Falle haben wir, ähnlich wie in der Angelegenheit der dnrch
die Pforte vertragsmäßig an Rußland zu leistenden Kriegsentschädigung, noch
einmal eine erwiesene Unmöglichkeit vor uns, doch mit dem Unterschiede, daß
die Illusion sich nicht wird auf längere Dauer aufrecht erhalten lassen, weil
andere, den britischen entgegenlaufende Interessen darauf angewiesen sind, den
Thatsachen zu ihrem Reckte zu verhelfen. Ich nehme Anstand, hier auf die
Details einzugehen. Die in Rede stehende Frage macht den Gegenstand von
Verhandlungen aus, die, augenscheinlich noch nicht zum Schluß gediehen, sich
gleichwohl demselben nähern. Hier wird und muß England schließlich nach¬
geben, wenn es nicht in unüberlegter und nicht zu rechtfertigender Weise auf's
neue schwere Verwickelungen heraufbeschwören will. Daß eine solche Gefahr
thatsächlich noch besteht, ist indeß kaum wahrscheinlich, vielmehr macht Alles,
was man jüngst beobachten konnte, den Eindruck, als ob die beiden rivalistrenden
Kabinette, das Londoner und das Se. Petersburger, am Vorabend eines^Kom-
promisses ständen, dessen endliches Zustandekommen nicht verfehlen kann, be¬
ruhigend auf die allgemeine Lage einzuwirken.

Einen viel bedeutenderen und in seinen Konsequenzen weiter reichenden
Mißgriff, als bei Aufstellung der Balkan-Linie als neue Grenze für das


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[0294] Politik der drei europäischen Ostmächte mit Entschiedenheit entgegen zu treten; auch der dabei gleich anfangs und in den nachfolgenden Jahren geerntete entschiedene Mißerfolg ist nicht im Stande gewesen, die britische Politik auf die Grundlage Verzicht leisten zu lassen, auf der sie von allem Anfang an Stellung genommen hatte, wie schwankend und unsicher dieselbe auch seitdem geworden war. Eine der charakteristischsten Eigenheiten britischer Staatsmänner besteht, neben den Schwankungen, denen sie beim Verfolgen ihrer Aufgaben unterliegen, und deren ich in Bezug auf das heutige Kabinet und dessen orien¬ talische Politik bereits Erwähnung gethan habe, in einer gewissen Ehrfurcht vor dem, was seither bestanden hat, mag es auch aus der Rumpelkammer längst ausgelebter Zeiten stammen, und in der Zähigkeit, mit der sie daran festhalten., Nachdem die Länder im Norden des Balkan's definitiv für die Pforte verloren gegangen waren, wollte das Londoner Kabinet mindestens diese Gebirgskette als eine nicht nur politische, sondern namentlich zugleich militärische Grenze des osmanischen Reiches gewahrt wissen. Es handelte sich mithin, im recht eigentlichen Sinne, um das Festhalten einer türkischen Vertheidigungsfront. Dabei ließ man sich durch die Ueberlegung bestimmen und leiten, daß die os¬ manischen Besitzungen nicht füglich auf einen geringeren Raumumfang reduzirt werden könnten, ohne daß sich gleichzeitig und in unmittelbarer Folge davon in der betreffenden Weltgegend die Sphäre des dominirenden englischen Ein¬ flusses und der entschiedenen Geltung des britischen Prestige's ebenfalls ver¬ enge. In diesem Falle haben wir, ähnlich wie in der Angelegenheit der dnrch die Pforte vertragsmäßig an Rußland zu leistenden Kriegsentschädigung, noch einmal eine erwiesene Unmöglichkeit vor uns, doch mit dem Unterschiede, daß die Illusion sich nicht wird auf längere Dauer aufrecht erhalten lassen, weil andere, den britischen entgegenlaufende Interessen darauf angewiesen sind, den Thatsachen zu ihrem Reckte zu verhelfen. Ich nehme Anstand, hier auf die Details einzugehen. Die in Rede stehende Frage macht den Gegenstand von Verhandlungen aus, die, augenscheinlich noch nicht zum Schluß gediehen, sich gleichwohl demselben nähern. Hier wird und muß England schließlich nach¬ geben, wenn es nicht in unüberlegter und nicht zu rechtfertigender Weise auf's neue schwere Verwickelungen heraufbeschwören will. Daß eine solche Gefahr thatsächlich noch besteht, ist indeß kaum wahrscheinlich, vielmehr macht Alles, was man jüngst beobachten konnte, den Eindruck, als ob die beiden rivalistrenden Kabinette, das Londoner und das Se. Petersburger, am Vorabend eines^Kom- promisses ständen, dessen endliches Zustandekommen nicht verfehlen kann, be¬ ruhigend auf die allgemeine Lage einzuwirken. Einen viel bedeutenderen und in seinen Konsequenzen weiter reichenden Mißgriff, als bei Aufstellung der Balkan-Linie als neue Grenze für das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/294>, abgerufen am 27.09.2024.