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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Schreiben seines Gebieters zu übergeben. Man mißt demselben einen konzi-
liatorischen Inhalt bei. Wie weit die Regelung der ostrumelischen Frage ihrem
Ziele dadurch entgegengeführt werden wird, kann zur Stunde noch nicht fest¬
gestellt werden. Die türkischen Blätter ließen im Widerspruch mit anderen
Nachrichten durchblicken, daß die Pforte in Betreff der von ihr beanspruchten
Okkupation des Passes von Jchtiman kaum nachgeben dürfte. Wie dem auch
sein mag, einer Lösung treiben diese Dinge gleichwohl entgegen, und zwar ist
anzunehmen, daß dieselbe noch in den laufenden Monat fallen werde.

Man hat sich daran gewöhnt, der russischen Politik im Osten als schärfsten
Gegensatz die dortigen britischen Bestrebungen gegenüber zu wissen. Aber
auch letztere sind Schwankungen unterworfen gewesen und haben am wenigsten
in der jüngsten Zeit mit Konsequenz an ein und derselben Richtlinie festgehalten.
Wenn hierbei im Allgemeinen das Temperament des leitenden britischen Staats¬
mannes, Lord Beaconsfield's, im Besonderen seine Neigung, sich durch plötzliche
Eingebungen des Augenblickes bestimmen zu lassen und Phantasiegebilden nach¬
zugehen, verantwortlich gemacht werden muß, so fällt daneben ein Theil der
Schuld wohl auch seinem, nächst ihm selber einflußreichsten Amts-Kollegen, dem
Marquis von Salisbury zu, dessen Anschauungen über die letzten Ziele der
englischen Interessen in dieser Weltgegend ebenfalls der Stetigkeit entbehren,
wie denn auch die Illusionen, denen sich namentlich im vergangenen Jahre
der eben jetzt von seinem langen Urlande aus England hierher zurückkehrende
englische Botschafter, Sir Austin Layard, hingegeben hatte, innerhalb des be¬
züglichen Kausal-Nexus nicht zu übersehen sind.

Es darf als ein Fundamentalsatz der britischen Orient-Politik angesehen
werden, daß England unter allen Umständen danach zu streben habe, einen
dominirenden Einfluß auf die Pforte auszuüben. Auf dieser prinzipiellen
Grundlage baut sich das auch heute uoch immer schwankende und luftige Ge¬
bäude der englischen Stellung im Osten auf. Dieselbe ist durch die Voraus¬
setzung bedingt, daß, da England das osmanische Reich unter keinen Umständen
jemals seinen Besitzungen wird einverleiben können, mindestens dem britischen
leitenden Willen dort die Vorhand zu sichern sei, und zwar vor allem um der
Raumstellung willen, welche die türkischen Lande auf dem Wege von Europa
nach Hindostan einnehmen. Am entschiedensten würde dieses englische Interesse
durch eine Theilung der Türkei durchkreuzt und gefährdet werden. Umgekehrt
wäre es am sichersten und nachdrücklichsten gewahrt, wenn die Integrität der
Besitzungen des Sultans nach Möglichkeit aufrecht erhalten werden könnte.
Auf dieses letztere Ziel laufen mithin durchaus logisch die englischen Bestre¬
bungen hinaus. Namentlich als die orientalische Krisis im Jahre 1875 aus¬
brach, ließ es sich England angelegen sein, der anders gewendeten Tendenz der


Schreiben seines Gebieters zu übergeben. Man mißt demselben einen konzi-
liatorischen Inhalt bei. Wie weit die Regelung der ostrumelischen Frage ihrem
Ziele dadurch entgegengeführt werden wird, kann zur Stunde noch nicht fest¬
gestellt werden. Die türkischen Blätter ließen im Widerspruch mit anderen
Nachrichten durchblicken, daß die Pforte in Betreff der von ihr beanspruchten
Okkupation des Passes von Jchtiman kaum nachgeben dürfte. Wie dem auch
sein mag, einer Lösung treiben diese Dinge gleichwohl entgegen, und zwar ist
anzunehmen, daß dieselbe noch in den laufenden Monat fallen werde.

Man hat sich daran gewöhnt, der russischen Politik im Osten als schärfsten
Gegensatz die dortigen britischen Bestrebungen gegenüber zu wissen. Aber
auch letztere sind Schwankungen unterworfen gewesen und haben am wenigsten
in der jüngsten Zeit mit Konsequenz an ein und derselben Richtlinie festgehalten.
Wenn hierbei im Allgemeinen das Temperament des leitenden britischen Staats¬
mannes, Lord Beaconsfield's, im Besonderen seine Neigung, sich durch plötzliche
Eingebungen des Augenblickes bestimmen zu lassen und Phantasiegebilden nach¬
zugehen, verantwortlich gemacht werden muß, so fällt daneben ein Theil der
Schuld wohl auch seinem, nächst ihm selber einflußreichsten Amts-Kollegen, dem
Marquis von Salisbury zu, dessen Anschauungen über die letzten Ziele der
englischen Interessen in dieser Weltgegend ebenfalls der Stetigkeit entbehren,
wie denn auch die Illusionen, denen sich namentlich im vergangenen Jahre
der eben jetzt von seinem langen Urlande aus England hierher zurückkehrende
englische Botschafter, Sir Austin Layard, hingegeben hatte, innerhalb des be¬
züglichen Kausal-Nexus nicht zu übersehen sind.

Es darf als ein Fundamentalsatz der britischen Orient-Politik angesehen
werden, daß England unter allen Umständen danach zu streben habe, einen
dominirenden Einfluß auf die Pforte auszuüben. Auf dieser prinzipiellen
Grundlage baut sich das auch heute uoch immer schwankende und luftige Ge¬
bäude der englischen Stellung im Osten auf. Dieselbe ist durch die Voraus¬
setzung bedingt, daß, da England das osmanische Reich unter keinen Umständen
jemals seinen Besitzungen wird einverleiben können, mindestens dem britischen
leitenden Willen dort die Vorhand zu sichern sei, und zwar vor allem um der
Raumstellung willen, welche die türkischen Lande auf dem Wege von Europa
nach Hindostan einnehmen. Am entschiedensten würde dieses englische Interesse
durch eine Theilung der Türkei durchkreuzt und gefährdet werden. Umgekehrt
wäre es am sichersten und nachdrücklichsten gewahrt, wenn die Integrität der
Besitzungen des Sultans nach Möglichkeit aufrecht erhalten werden könnte.
Auf dieses letztere Ziel laufen mithin durchaus logisch die englischen Bestre¬
bungen hinaus. Namentlich als die orientalische Krisis im Jahre 1875 aus¬
brach, ließ es sich England angelegen sein, der anders gewendeten Tendenz der


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[0293] Schreiben seines Gebieters zu übergeben. Man mißt demselben einen konzi- liatorischen Inhalt bei. Wie weit die Regelung der ostrumelischen Frage ihrem Ziele dadurch entgegengeführt werden wird, kann zur Stunde noch nicht fest¬ gestellt werden. Die türkischen Blätter ließen im Widerspruch mit anderen Nachrichten durchblicken, daß die Pforte in Betreff der von ihr beanspruchten Okkupation des Passes von Jchtiman kaum nachgeben dürfte. Wie dem auch sein mag, einer Lösung treiben diese Dinge gleichwohl entgegen, und zwar ist anzunehmen, daß dieselbe noch in den laufenden Monat fallen werde. Man hat sich daran gewöhnt, der russischen Politik im Osten als schärfsten Gegensatz die dortigen britischen Bestrebungen gegenüber zu wissen. Aber auch letztere sind Schwankungen unterworfen gewesen und haben am wenigsten in der jüngsten Zeit mit Konsequenz an ein und derselben Richtlinie festgehalten. Wenn hierbei im Allgemeinen das Temperament des leitenden britischen Staats¬ mannes, Lord Beaconsfield's, im Besonderen seine Neigung, sich durch plötzliche Eingebungen des Augenblickes bestimmen zu lassen und Phantasiegebilden nach¬ zugehen, verantwortlich gemacht werden muß, so fällt daneben ein Theil der Schuld wohl auch seinem, nächst ihm selber einflußreichsten Amts-Kollegen, dem Marquis von Salisbury zu, dessen Anschauungen über die letzten Ziele der englischen Interessen in dieser Weltgegend ebenfalls der Stetigkeit entbehren, wie denn auch die Illusionen, denen sich namentlich im vergangenen Jahre der eben jetzt von seinem langen Urlande aus England hierher zurückkehrende englische Botschafter, Sir Austin Layard, hingegeben hatte, innerhalb des be¬ züglichen Kausal-Nexus nicht zu übersehen sind. Es darf als ein Fundamentalsatz der britischen Orient-Politik angesehen werden, daß England unter allen Umständen danach zu streben habe, einen dominirenden Einfluß auf die Pforte auszuüben. Auf dieser prinzipiellen Grundlage baut sich das auch heute uoch immer schwankende und luftige Ge¬ bäude der englischen Stellung im Osten auf. Dieselbe ist durch die Voraus¬ setzung bedingt, daß, da England das osmanische Reich unter keinen Umständen jemals seinen Besitzungen wird einverleiben können, mindestens dem britischen leitenden Willen dort die Vorhand zu sichern sei, und zwar vor allem um der Raumstellung willen, welche die türkischen Lande auf dem Wege von Europa nach Hindostan einnehmen. Am entschiedensten würde dieses englische Interesse durch eine Theilung der Türkei durchkreuzt und gefährdet werden. Umgekehrt wäre es am sichersten und nachdrücklichsten gewahrt, wenn die Integrität der Besitzungen des Sultans nach Möglichkeit aufrecht erhalten werden könnte. Auf dieses letztere Ziel laufen mithin durchaus logisch die englischen Bestre¬ bungen hinaus. Namentlich als die orientalische Krisis im Jahre 1875 aus¬ brach, ließ es sich England angelegen sein, der anders gewendeten Tendenz der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/293>, abgerufen am 29.12.2024.