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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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vjsvMÄls an; dabei verschmähte er es, der damaligen Sitte gemäß, nicht, sich
durch Verkauf von Geheimmitteln zu bereichern.

Die Einfachheit und praktische Verwendbarkeit des Hoffmann'schen Systems
und der Umstand, daß es sich mit dem Hippokratismus und der um die Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts auftretenden und epochemachenden Jrritabilitäts-
lehre Haller's vereinigen ließ, verschafften ihm nicht allein eine große Zahl
von Anhängern, sondern erhielten es auch sehr lange Zeit bei vielen Praktikern
in Ansehen. Ein Irrthum aber wäre es, wenn man meinen wollte, es sei in
der Zeit, die wir im Nachstehenden charakterisiren wollen, von allen, die sich
Aerzte nannten, anerkannt und befolgt worden. Wir haben auf den letzten
Seiten nur von der Theorie, von der ärztlichen Wissenschaft und deren Fort¬
schritten gesprochen. Die Praxis nahm hiervon in weiten Kreisen keine oder
doch nur wenig Notiz. Ein großer Theil, ja wahrscheinlich die Mehrzahl der
Aerzte kurirte zu der Zeit, wo der Urgroßvater die Urgroßmutter nahm, noch
nach Vorschriften älterer Methoden, nach Anweisungen der Chemiatriker, nach
den Rezeptbüchern der Paracelsisten oder nach Brocken und Resten von aller
dieser Schulen Tischen zusammengenommen, und die neben ihnen arbeitenden,
von keiner Gesundheitspolizei überwachten und beschränkten Medikaster, Volks¬
ärzte, Marktschreier und Wunderdoktoren operirten, wenn sie überhaupt etwas
wußten und nicht bloße Schwindler waren, sogar mit Nachklängen aus der
Medizin des Mittelalters. Man kann sich diese Zustände nicht schlimm genug
vorstellen. Selbst manche Hof- und Leibmedici waren nicht viel besser als
Ignoranten und Charlatane, und was sich der Bürger und Bauer in seiner
Leichtgläubigkeit bieten ließ, übersteigt alle Grenzen.

In den beiden Reden "von der Charlatanerie oder Marktschreierei der
Gelehrten", die Johann Burkhardt Mencke, Professor der Geschichte und kur¬
fürstlicher Historiograph zu Leipzig, 1713 und 1715 bei Magisterpromotionen
hielt"), lesen wir unter Anderem Folgendes:

"Man erzählet sonst von Carolo Patino, daß, als sich selbiger zu Basel
bei einem Medico aufgehalten, er von ungefähr dessen Sohn, einen jungen
Studiosum Medicinae gefraget, wie viel Theile der Arzeneikunst wären. Da
nun dieser der gemeinen Ordnung nach geantwortet: viere, nämlich die Phy¬
siologie, die Pathologie, die Semiotik und die Therapie, so hat Patinus den
fünften Theil, welchen er zugleich vor den vornehmsten ausgegeben, nämlich die



*) Vgl, Moritz Busch: "Die gute alte Zeit" (Leipzig, 1873, Grunow, 2 Bände),
ein Werk, das wir allen Freunden kulturhistorischer Lektüre als einen lehrreichen, lebens¬
vollen und wohlgeschriebenen Beitrag zur Kunde der Verhältnisse und der Denkart des
deutschen Lehr-, Wehr- und Nährstandes im 17. und 13. Jahrhundert angelegentlich
empfehlen.

vjsvMÄls an; dabei verschmähte er es, der damaligen Sitte gemäß, nicht, sich
durch Verkauf von Geheimmitteln zu bereichern.

Die Einfachheit und praktische Verwendbarkeit des Hoffmann'schen Systems
und der Umstand, daß es sich mit dem Hippokratismus und der um die Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts auftretenden und epochemachenden Jrritabilitäts-
lehre Haller's vereinigen ließ, verschafften ihm nicht allein eine große Zahl
von Anhängern, sondern erhielten es auch sehr lange Zeit bei vielen Praktikern
in Ansehen. Ein Irrthum aber wäre es, wenn man meinen wollte, es sei in
der Zeit, die wir im Nachstehenden charakterisiren wollen, von allen, die sich
Aerzte nannten, anerkannt und befolgt worden. Wir haben auf den letzten
Seiten nur von der Theorie, von der ärztlichen Wissenschaft und deren Fort¬
schritten gesprochen. Die Praxis nahm hiervon in weiten Kreisen keine oder
doch nur wenig Notiz. Ein großer Theil, ja wahrscheinlich die Mehrzahl der
Aerzte kurirte zu der Zeit, wo der Urgroßvater die Urgroßmutter nahm, noch
nach Vorschriften älterer Methoden, nach Anweisungen der Chemiatriker, nach
den Rezeptbüchern der Paracelsisten oder nach Brocken und Resten von aller
dieser Schulen Tischen zusammengenommen, und die neben ihnen arbeitenden,
von keiner Gesundheitspolizei überwachten und beschränkten Medikaster, Volks¬
ärzte, Marktschreier und Wunderdoktoren operirten, wenn sie überhaupt etwas
wußten und nicht bloße Schwindler waren, sogar mit Nachklängen aus der
Medizin des Mittelalters. Man kann sich diese Zustände nicht schlimm genug
vorstellen. Selbst manche Hof- und Leibmedici waren nicht viel besser als
Ignoranten und Charlatane, und was sich der Bürger und Bauer in seiner
Leichtgläubigkeit bieten ließ, übersteigt alle Grenzen.

In den beiden Reden „von der Charlatanerie oder Marktschreierei der
Gelehrten", die Johann Burkhardt Mencke, Professor der Geschichte und kur¬
fürstlicher Historiograph zu Leipzig, 1713 und 1715 bei Magisterpromotionen
hielt"), lesen wir unter Anderem Folgendes:

„Man erzählet sonst von Carolo Patino, daß, als sich selbiger zu Basel
bei einem Medico aufgehalten, er von ungefähr dessen Sohn, einen jungen
Studiosum Medicinae gefraget, wie viel Theile der Arzeneikunst wären. Da
nun dieser der gemeinen Ordnung nach geantwortet: viere, nämlich die Phy¬
siologie, die Pathologie, die Semiotik und die Therapie, so hat Patinus den
fünften Theil, welchen er zugleich vor den vornehmsten ausgegeben, nämlich die



*) Vgl, Moritz Busch: „Die gute alte Zeit" (Leipzig, 1873, Grunow, 2 Bände),
ein Werk, das wir allen Freunden kulturhistorischer Lektüre als einen lehrreichen, lebens¬
vollen und wohlgeschriebenen Beitrag zur Kunde der Verhältnisse und der Denkart des
deutschen Lehr-, Wehr- und Nährstandes im 17. und 13. Jahrhundert angelegentlich
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[0274] vjsvMÄls an; dabei verschmähte er es, der damaligen Sitte gemäß, nicht, sich durch Verkauf von Geheimmitteln zu bereichern. Die Einfachheit und praktische Verwendbarkeit des Hoffmann'schen Systems und der Umstand, daß es sich mit dem Hippokratismus und der um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts auftretenden und epochemachenden Jrritabilitäts- lehre Haller's vereinigen ließ, verschafften ihm nicht allein eine große Zahl von Anhängern, sondern erhielten es auch sehr lange Zeit bei vielen Praktikern in Ansehen. Ein Irrthum aber wäre es, wenn man meinen wollte, es sei in der Zeit, die wir im Nachstehenden charakterisiren wollen, von allen, die sich Aerzte nannten, anerkannt und befolgt worden. Wir haben auf den letzten Seiten nur von der Theorie, von der ärztlichen Wissenschaft und deren Fort¬ schritten gesprochen. Die Praxis nahm hiervon in weiten Kreisen keine oder doch nur wenig Notiz. Ein großer Theil, ja wahrscheinlich die Mehrzahl der Aerzte kurirte zu der Zeit, wo der Urgroßvater die Urgroßmutter nahm, noch nach Vorschriften älterer Methoden, nach Anweisungen der Chemiatriker, nach den Rezeptbüchern der Paracelsisten oder nach Brocken und Resten von aller dieser Schulen Tischen zusammengenommen, und die neben ihnen arbeitenden, von keiner Gesundheitspolizei überwachten und beschränkten Medikaster, Volks¬ ärzte, Marktschreier und Wunderdoktoren operirten, wenn sie überhaupt etwas wußten und nicht bloße Schwindler waren, sogar mit Nachklängen aus der Medizin des Mittelalters. Man kann sich diese Zustände nicht schlimm genug vorstellen. Selbst manche Hof- und Leibmedici waren nicht viel besser als Ignoranten und Charlatane, und was sich der Bürger und Bauer in seiner Leichtgläubigkeit bieten ließ, übersteigt alle Grenzen. In den beiden Reden „von der Charlatanerie oder Marktschreierei der Gelehrten", die Johann Burkhardt Mencke, Professor der Geschichte und kur¬ fürstlicher Historiograph zu Leipzig, 1713 und 1715 bei Magisterpromotionen hielt"), lesen wir unter Anderem Folgendes: „Man erzählet sonst von Carolo Patino, daß, als sich selbiger zu Basel bei einem Medico aufgehalten, er von ungefähr dessen Sohn, einen jungen Studiosum Medicinae gefraget, wie viel Theile der Arzeneikunst wären. Da nun dieser der gemeinen Ordnung nach geantwortet: viere, nämlich die Phy¬ siologie, die Pathologie, die Semiotik und die Therapie, so hat Patinus den fünften Theil, welchen er zugleich vor den vornehmsten ausgegeben, nämlich die *) Vgl, Moritz Busch: „Die gute alte Zeit" (Leipzig, 1873, Grunow, 2 Bände), ein Werk, das wir allen Freunden kulturhistorischer Lektüre als einen lehrreichen, lebens¬ vollen und wohlgeschriebenen Beitrag zur Kunde der Verhältnisse und der Denkart des deutschen Lehr-, Wehr- und Nährstandes im 17. und 13. Jahrhundert angelegentlich empfehlen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/274>, abgerufen am 27.09.2024.