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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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reicht hatten, obendrein sich selbst kaum weniger schwach fühlten als die Fran¬
zosen -- sie zählten damals alles in allem keine 50000 Mann --, wo ans
der andern Seite die Franzosen an der Weichsel fast ebensoviel zur Verfügung
hatten, 12 000 in Berlin und Spandau standen, gegenüber wenigen Tausend
Preußen in Potsdam und Charlottenburg, 24000 im Marsche von Magdeburg her
waren, wo ein Wink Augereau's genügte, um den König in seine Hand zu bringen.
Die Freunde fern, schwach, unsicher, die Feinde nahe, stark, entschlossen, das
ließ keine Wahl. Der König beschloß also, die Konvention thatsächlich anzu¬
nehmen, den Franzosen gegenüber zu verleugnen. So ging am 5. Januar
Major v. Rechner nach Elbiug an König Murat ab, der an Napoleon's Stelle
das Kommando der "großen Armee" führte. Das königliche Schreiben an ihn
meldete, Jork sei entsetzt und werde vor ein Kriegsgericht gestellt; sein
Kommando solle Kleist übernehmen, die Konvention sei kassirt, das Armeekorps
stehe zu Murat's Verfügung. Auch an Jork sollte der Major -- so hieß es
gegenüber Murat -- diese Ordre bringen, aber ein geheimer mündlicher Befehl
des Königs, im Beisein Hardenberg's gegeben, wies ihn an, statt nach Tilsit zu
Kaiser Alexander zu gehen und diesem im Namen des Königs zu erklären,
Preußen sei bereit, sich zu erheben, an Rußland sich anzuschließen, sobald sein
Heer die Weichsel überschreite. Das bedeutete: Aork sollte offiziell seine Absetzung
gar nicht erfahren, und der sie ihm überbrachte, die ersten Fäden des russisch-
Prenßischen Bündnisses schlingen. Nach Paris aber eilte am 12. Januar Fürst
Hatzfeld, um dort ein Entweder-Oder vorzulegen, das aus dem Munde dieses
erklärten Anhängers der französischen Allianz doppelt bedeutsam klang. Denn
er eröffnete dem Kaiser, die Erbitterung in Preußen und ganz Deutschland
sei ungeheuer, die Negierung kaum noch Herr ihres Volkes und schlechterdings
außer Stande, neue Lasten zu übernehmen sür Frankreich. Wolle Napoleon
ihre Treue sichern, so müsse er seine finanziellen Verpflichtungen erfüllen. Das
war eine Sprache, wie sie Preußen ihm gegenüber seit Jahren nicht zu führen
gewagt hatte. Doch er vermaß sich noch immer, dies tief empörte Volk nieder¬
zuzwingen mit seinen Legionen und seinem Genie. Aber weshalb hatte ihn
denn Aork's Abfall, den die Regierung mit der Entsetzung des ungehorsamen
Generals beantwortete, so tief erregt, ihn, der zwar zornig aufgebraust
war, als ihm Kaiser Franz einfach mittheilen ließ, ans seinen Befehl habe
der Führer des österreichischen Hilfskorps, Fürst Schwarzenberg, das Herzog-
thum Warschau geräumt, um die eigenen Grenzen zu decken, d. h. es den
Russen preisgegeben, aber dann den Groll über dieses bundesfreundliche
Verfahren des Schwiegervaters tief in seine Brust verschloß? Ahnte er in¬
stinktiv, daß die Einstellung der österreichischen Heeresfolge eine That des Wiener


reicht hatten, obendrein sich selbst kaum weniger schwach fühlten als die Fran¬
zosen — sie zählten damals alles in allem keine 50000 Mann —, wo ans
der andern Seite die Franzosen an der Weichsel fast ebensoviel zur Verfügung
hatten, 12 000 in Berlin und Spandau standen, gegenüber wenigen Tausend
Preußen in Potsdam und Charlottenburg, 24000 im Marsche von Magdeburg her
waren, wo ein Wink Augereau's genügte, um den König in seine Hand zu bringen.
Die Freunde fern, schwach, unsicher, die Feinde nahe, stark, entschlossen, das
ließ keine Wahl. Der König beschloß also, die Konvention thatsächlich anzu¬
nehmen, den Franzosen gegenüber zu verleugnen. So ging am 5. Januar
Major v. Rechner nach Elbiug an König Murat ab, der an Napoleon's Stelle
das Kommando der „großen Armee" führte. Das königliche Schreiben an ihn
meldete, Jork sei entsetzt und werde vor ein Kriegsgericht gestellt; sein
Kommando solle Kleist übernehmen, die Konvention sei kassirt, das Armeekorps
stehe zu Murat's Verfügung. Auch an Jork sollte der Major — so hieß es
gegenüber Murat — diese Ordre bringen, aber ein geheimer mündlicher Befehl
des Königs, im Beisein Hardenberg's gegeben, wies ihn an, statt nach Tilsit zu
Kaiser Alexander zu gehen und diesem im Namen des Königs zu erklären,
Preußen sei bereit, sich zu erheben, an Rußland sich anzuschließen, sobald sein
Heer die Weichsel überschreite. Das bedeutete: Aork sollte offiziell seine Absetzung
gar nicht erfahren, und der sie ihm überbrachte, die ersten Fäden des russisch-
Prenßischen Bündnisses schlingen. Nach Paris aber eilte am 12. Januar Fürst
Hatzfeld, um dort ein Entweder-Oder vorzulegen, das aus dem Munde dieses
erklärten Anhängers der französischen Allianz doppelt bedeutsam klang. Denn
er eröffnete dem Kaiser, die Erbitterung in Preußen und ganz Deutschland
sei ungeheuer, die Negierung kaum noch Herr ihres Volkes und schlechterdings
außer Stande, neue Lasten zu übernehmen sür Frankreich. Wolle Napoleon
ihre Treue sichern, so müsse er seine finanziellen Verpflichtungen erfüllen. Das
war eine Sprache, wie sie Preußen ihm gegenüber seit Jahren nicht zu führen
gewagt hatte. Doch er vermaß sich noch immer, dies tief empörte Volk nieder¬
zuzwingen mit seinen Legionen und seinem Genie. Aber weshalb hatte ihn
denn Aork's Abfall, den die Regierung mit der Entsetzung des ungehorsamen
Generals beantwortete, so tief erregt, ihn, der zwar zornig aufgebraust
war, als ihm Kaiser Franz einfach mittheilen ließ, ans seinen Befehl habe
der Führer des österreichischen Hilfskorps, Fürst Schwarzenberg, das Herzog-
thum Warschau geräumt, um die eigenen Grenzen zu decken, d. h. es den
Russen preisgegeben, aber dann den Groll über dieses bundesfreundliche
Verfahren des Schwiegervaters tief in seine Brust verschloß? Ahnte er in¬
stinktiv, daß die Einstellung der österreichischen Heeresfolge eine That des Wiener


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/223>, abgerufen am 28.09.2024.