Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

kamen nicht; nur das vermochte er aus einer königlichen Kaninetsordre vom
6. Dezember und aus einem Schreiben Hardenberg's zu erkennen, daß man
in Berlin sein Verhalten Macdonald gegenüber nicht mißbillige.

In der That war erst am 13. Dezember früh Seydlitz in Berlin ange¬
kommen. Es waren die Tage jener entscheidenden Berathungen. Aber was
die Russen von Jork verlangten, das eilte den Plänen des Hofes weit voraus,
hätte den Bruch des noch völlig ungerüsteten Staates mit Frankreich bedeutet,
wenn die Regierung es anordnete. Sie konnte nicht anders handeln, als sie
dann that. Erst am 21. Dezember ging Seydlitz wieder ab; neben der Er¬
nennung Jork's zum Generalgouvemeur von Ostpreußen -- gewiß ein bedeut¬
sames Zeichen königlichen Vertrauens -- überbrachte er ihm die mündliche
Weisung des Monarchen: er solle nach den Umständen handeln, nicht über die
Schnur hauen. Damit war dem General gewiß eine große Freiheit gelassen,
aber die volle Verantwortung fiel eben deshalb auf seine Schultern; eine In¬
struktion waren diese Worte nicht.

Doch ehe noch Seydlitz ihn wieder erreichte, war die Lage völlig verändert.
Am 18. Dezember hatte Macdonald die Gewißheit, die "große Armee" sei ver¬
nichtet, auch Kowno am Njemen bereits geräumt, die Russen -- hinter seinem
Rücken -- im Marsche auf Tilsit. Da befahl er den Abmarsch auf der
großen Straße durch Samogitien nach Memel und Tilsit, er selbst voraus mit
der Division Grandjean und den Preußen Massenbach's; nach ihm -- mehr
als 36 Stunden später, nach des Marschalls Weisung -- brach Jork auf. Es
war ein schrecklicher Marsch durch das öde, dünnbevölkerte, mit tiefem Schnee
bedeckte Land, auf spiegelglatter Straße, bei einer Kälte, die bis 24 Grad
stieg; oft glitten und stürzten Mann und Pferd, nur schrittweis kam man vor¬
wärts. So ging es Tage lang in ununterbrochenem Zuge, oft des Nachts.
Es war am Weihnachtsabend dieses schrecklichen Jahres, und mancher mochte
seufzend seiner Lieben daheim gedenken, da langte Jork in Kelmi an, etwa
halbwegs nach Tilsit. Dort fand er den Befehl Macdonalo's vor, auf Tau¬
roggen und Tilsit zu gehen, den letzten, den er von ihm erhielt. Aber wie
nun der Zug am ersten Weihnachtsfeiertage weiter geht, voran Kleist, nach
ihm Jork, zwischen beiden die stundenlange Wagenkolonne, bei tiefem Schnee,
eisigem Winde, unter grauem Wolkenhimmel sich wie eine endlose dunkle
Schlange durch die weiße Landschaft windend, da trifft in der Dämmerung
Nachmittags gegen 4 Uhr Kleist's Vorhut auf den Feind. Ein starkes russisches
Korps hält die vorliegenden Höhen besetzt, es ist Generalmajor v. Diebitsch
von Wittgenstein's Armee. Und gleichzeitig kommt von der Nachhut die
Kunde, sie werde heftig gedrängt. Man war von hinten und von vorn gefaßt,
von Macdonald abgeschnitten! Wollte Jork nicht durch einen nutzlosen Kampf


kamen nicht; nur das vermochte er aus einer königlichen Kaninetsordre vom
6. Dezember und aus einem Schreiben Hardenberg's zu erkennen, daß man
in Berlin sein Verhalten Macdonald gegenüber nicht mißbillige.

In der That war erst am 13. Dezember früh Seydlitz in Berlin ange¬
kommen. Es waren die Tage jener entscheidenden Berathungen. Aber was
die Russen von Jork verlangten, das eilte den Plänen des Hofes weit voraus,
hätte den Bruch des noch völlig ungerüsteten Staates mit Frankreich bedeutet,
wenn die Regierung es anordnete. Sie konnte nicht anders handeln, als sie
dann that. Erst am 21. Dezember ging Seydlitz wieder ab; neben der Er¬
nennung Jork's zum Generalgouvemeur von Ostpreußen — gewiß ein bedeut¬
sames Zeichen königlichen Vertrauens — überbrachte er ihm die mündliche
Weisung des Monarchen: er solle nach den Umständen handeln, nicht über die
Schnur hauen. Damit war dem General gewiß eine große Freiheit gelassen,
aber die volle Verantwortung fiel eben deshalb auf seine Schultern; eine In¬
struktion waren diese Worte nicht.

Doch ehe noch Seydlitz ihn wieder erreichte, war die Lage völlig verändert.
Am 18. Dezember hatte Macdonald die Gewißheit, die „große Armee" sei ver¬
nichtet, auch Kowno am Njemen bereits geräumt, die Russen — hinter seinem
Rücken — im Marsche auf Tilsit. Da befahl er den Abmarsch auf der
großen Straße durch Samogitien nach Memel und Tilsit, er selbst voraus mit
der Division Grandjean und den Preußen Massenbach's; nach ihm — mehr
als 36 Stunden später, nach des Marschalls Weisung — brach Jork auf. Es
war ein schrecklicher Marsch durch das öde, dünnbevölkerte, mit tiefem Schnee
bedeckte Land, auf spiegelglatter Straße, bei einer Kälte, die bis 24 Grad
stieg; oft glitten und stürzten Mann und Pferd, nur schrittweis kam man vor¬
wärts. So ging es Tage lang in ununterbrochenem Zuge, oft des Nachts.
Es war am Weihnachtsabend dieses schrecklichen Jahres, und mancher mochte
seufzend seiner Lieben daheim gedenken, da langte Jork in Kelmi an, etwa
halbwegs nach Tilsit. Dort fand er den Befehl Macdonalo's vor, auf Tau¬
roggen und Tilsit zu gehen, den letzten, den er von ihm erhielt. Aber wie
nun der Zug am ersten Weihnachtsfeiertage weiter geht, voran Kleist, nach
ihm Jork, zwischen beiden die stundenlange Wagenkolonne, bei tiefem Schnee,
eisigem Winde, unter grauem Wolkenhimmel sich wie eine endlose dunkle
Schlange durch die weiße Landschaft windend, da trifft in der Dämmerung
Nachmittags gegen 4 Uhr Kleist's Vorhut auf den Feind. Ein starkes russisches
Korps hält die vorliegenden Höhen besetzt, es ist Generalmajor v. Diebitsch
von Wittgenstein's Armee. Und gleichzeitig kommt von der Nachhut die
Kunde, sie werde heftig gedrängt. Man war von hinten und von vorn gefaßt,
von Macdonald abgeschnitten! Wollte Jork nicht durch einen nutzlosen Kampf


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0220" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142175"/>
          <p xml:id="ID_612" prev="#ID_611"> kamen nicht; nur das vermochte er aus einer königlichen Kaninetsordre vom<lb/>
6. Dezember und aus einem Schreiben Hardenberg's zu erkennen, daß man<lb/>
in Berlin sein Verhalten Macdonald gegenüber nicht mißbillige.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_613"> In der That war erst am 13. Dezember früh Seydlitz in Berlin ange¬<lb/>
kommen. Es waren die Tage jener entscheidenden Berathungen. Aber was<lb/>
die Russen von Jork verlangten, das eilte den Plänen des Hofes weit voraus,<lb/>
hätte den Bruch des noch völlig ungerüsteten Staates mit Frankreich bedeutet,<lb/>
wenn die Regierung es anordnete. Sie konnte nicht anders handeln, als sie<lb/>
dann that. Erst am 21. Dezember ging Seydlitz wieder ab; neben der Er¬<lb/>
nennung Jork's zum Generalgouvemeur von Ostpreußen &#x2014; gewiß ein bedeut¬<lb/>
sames Zeichen königlichen Vertrauens &#x2014; überbrachte er ihm die mündliche<lb/>
Weisung des Monarchen: er solle nach den Umständen handeln, nicht über die<lb/>
Schnur hauen. Damit war dem General gewiß eine große Freiheit gelassen,<lb/>
aber die volle Verantwortung fiel eben deshalb auf seine Schultern; eine In¬<lb/>
struktion waren diese Worte nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_614" next="#ID_615"> Doch ehe noch Seydlitz ihn wieder erreichte, war die Lage völlig verändert.<lb/>
Am 18. Dezember hatte Macdonald die Gewißheit, die &#x201E;große Armee" sei ver¬<lb/>
nichtet, auch Kowno am Njemen bereits geräumt, die Russen &#x2014; hinter seinem<lb/>
Rücken &#x2014; im Marsche auf Tilsit. Da befahl er den Abmarsch auf der<lb/>
großen Straße durch Samogitien nach Memel und Tilsit, er selbst voraus mit<lb/>
der Division Grandjean und den Preußen Massenbach's; nach ihm &#x2014; mehr<lb/>
als 36 Stunden später, nach des Marschalls Weisung &#x2014; brach Jork auf. Es<lb/>
war ein schrecklicher Marsch durch das öde, dünnbevölkerte, mit tiefem Schnee<lb/>
bedeckte Land, auf spiegelglatter Straße, bei einer Kälte, die bis 24 Grad<lb/>
stieg; oft glitten und stürzten Mann und Pferd, nur schrittweis kam man vor¬<lb/>
wärts. So ging es Tage lang in ununterbrochenem Zuge, oft des Nachts.<lb/>
Es war am Weihnachtsabend dieses schrecklichen Jahres, und mancher mochte<lb/>
seufzend seiner Lieben daheim gedenken, da langte Jork in Kelmi an, etwa<lb/>
halbwegs nach Tilsit. Dort fand er den Befehl Macdonalo's vor, auf Tau¬<lb/>
roggen und Tilsit zu gehen, den letzten, den er von ihm erhielt. Aber wie<lb/>
nun der Zug am ersten Weihnachtsfeiertage weiter geht, voran Kleist, nach<lb/>
ihm Jork, zwischen beiden die stundenlange Wagenkolonne, bei tiefem Schnee,<lb/>
eisigem Winde, unter grauem Wolkenhimmel sich wie eine endlose dunkle<lb/>
Schlange durch die weiße Landschaft windend, da trifft in der Dämmerung<lb/>
Nachmittags gegen 4 Uhr Kleist's Vorhut auf den Feind. Ein starkes russisches<lb/>
Korps hält die vorliegenden Höhen besetzt, es ist Generalmajor v. Diebitsch<lb/>
von Wittgenstein's Armee. Und gleichzeitig kommt von der Nachhut die<lb/>
Kunde, sie werde heftig gedrängt. Man war von hinten und von vorn gefaßt,<lb/>
von Macdonald abgeschnitten! Wollte Jork nicht durch einen nutzlosen Kampf</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0220] kamen nicht; nur das vermochte er aus einer königlichen Kaninetsordre vom 6. Dezember und aus einem Schreiben Hardenberg's zu erkennen, daß man in Berlin sein Verhalten Macdonald gegenüber nicht mißbillige. In der That war erst am 13. Dezember früh Seydlitz in Berlin ange¬ kommen. Es waren die Tage jener entscheidenden Berathungen. Aber was die Russen von Jork verlangten, das eilte den Plänen des Hofes weit voraus, hätte den Bruch des noch völlig ungerüsteten Staates mit Frankreich bedeutet, wenn die Regierung es anordnete. Sie konnte nicht anders handeln, als sie dann that. Erst am 21. Dezember ging Seydlitz wieder ab; neben der Er¬ nennung Jork's zum Generalgouvemeur von Ostpreußen — gewiß ein bedeut¬ sames Zeichen königlichen Vertrauens — überbrachte er ihm die mündliche Weisung des Monarchen: er solle nach den Umständen handeln, nicht über die Schnur hauen. Damit war dem General gewiß eine große Freiheit gelassen, aber die volle Verantwortung fiel eben deshalb auf seine Schultern; eine In¬ struktion waren diese Worte nicht. Doch ehe noch Seydlitz ihn wieder erreichte, war die Lage völlig verändert. Am 18. Dezember hatte Macdonald die Gewißheit, die „große Armee" sei ver¬ nichtet, auch Kowno am Njemen bereits geräumt, die Russen — hinter seinem Rücken — im Marsche auf Tilsit. Da befahl er den Abmarsch auf der großen Straße durch Samogitien nach Memel und Tilsit, er selbst voraus mit der Division Grandjean und den Preußen Massenbach's; nach ihm — mehr als 36 Stunden später, nach des Marschalls Weisung — brach Jork auf. Es war ein schrecklicher Marsch durch das öde, dünnbevölkerte, mit tiefem Schnee bedeckte Land, auf spiegelglatter Straße, bei einer Kälte, die bis 24 Grad stieg; oft glitten und stürzten Mann und Pferd, nur schrittweis kam man vor¬ wärts. So ging es Tage lang in ununterbrochenem Zuge, oft des Nachts. Es war am Weihnachtsabend dieses schrecklichen Jahres, und mancher mochte seufzend seiner Lieben daheim gedenken, da langte Jork in Kelmi an, etwa halbwegs nach Tilsit. Dort fand er den Befehl Macdonalo's vor, auf Tau¬ roggen und Tilsit zu gehen, den letzten, den er von ihm erhielt. Aber wie nun der Zug am ersten Weihnachtsfeiertage weiter geht, voran Kleist, nach ihm Jork, zwischen beiden die stundenlange Wagenkolonne, bei tiefem Schnee, eisigem Winde, unter grauem Wolkenhimmel sich wie eine endlose dunkle Schlange durch die weiße Landschaft windend, da trifft in der Dämmerung Nachmittags gegen 4 Uhr Kleist's Vorhut auf den Feind. Ein starkes russisches Korps hält die vorliegenden Höhen besetzt, es ist Generalmajor v. Diebitsch von Wittgenstein's Armee. Und gleichzeitig kommt von der Nachhut die Kunde, sie werde heftig gedrängt. Man war von hinten und von vorn gefaßt, von Macdonald abgeschnitten! Wollte Jork nicht durch einen nutzlosen Kampf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/220
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/220>, abgerufen am 28.09.2024.