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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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und zugleich seine Aufforderung, sich mit Oesterreich zu verständigen zum Ab¬
falle von Frankreich.

Jetzt durfte man zu hoffen wagen; Hardenberg fand den Muth, neue
Forderungen Napoleon's auf eine ansehnliche Verstärkung des preußischen
Hilfskorps mit dem Hinweis ans die völlige Erschöpfung des Landes abzu¬
lehnen. Noch ahnte man aber nichts von dem erbarmungslosen Verderben,
das schon über die "große Armee" hereingebrochen war. Am 18. und 19.
Oktober hatte Napoleon die Hauptstadt geräumt, war nach dem unglücklichen
Versuche, in südlicher Richtung über Malo - Jaroslawez nach Kaluga durchzu¬
brechen, zurückgegangen auf die alte entsetzlich verwüstete Straße über Smolensk,
die keine Möglichkeit der Erhaltung sür seine Tausende bot. Als er -- am
9. November -- das verödete Smolensk erreichte, da hatte der russische Winter
sein Werk vollbracht: kaum 40000 Mann hielt der Imperator noch von
100000 Mann des Zentrums, die Moskau verlassen, unter Waffen, alles
andere bestand aus wehrlosen Haufen ohne jede militärische Ordnung; 350
Geschütze waren seit Moskau verloren, und wie der Donner einer großen
Schlacht hallte auf der ganzen Rückzugsstraße der Schall der Explosionen,
welche die verlassenen Munitionswagen zerstörten. Noch hoffte man in Wilna,
dem diplomatischen Hauptquartier, der strategischen Basis des ganzen Zuges,
wo der Herzog von Bassano den Kaiser vertrat, umgeben von den Gesandten
aller verbündeten Staaten, die Armee werde sich an der Dura und am Dujepr
halten können, und der preußische Gesandte General v. Krusemark sah aus
dieser Möglichkeit nur neue furchtbare Lasten für fein armes Vaterland her¬
vorgehen (Bericht vom 21. Nov.). Aber schon am 8. Dezember wußte man in
Berlin, auch Smolensk sei nicht zu halten gewesen, ja selbst der Rückzug auf
Wilna über die Beresina bedroht. Wenige Tage später -- am 14. -- meldete
der Postmeister in Glogau, Napoleon habe auf der Reise nach Paris die
Stadt passirt.

Ja, der Allgewaltige war auf der Flucht. Er hatte sein geopfertes Heer
verlassen, nachdem er es über die Beresina geführt und unbewegt den unaus¬
sprechlichen Jammer mit angeschaut (26. und 27. November). Am 10. Dezember
war er in Warschau eingetroffen, im Englischen Hofe abgestiegen. Wer fühlte
nicht das sprachlose Entsetzen jener Szene mit, die damals sich dort abspielte!
Der außerordentliche französische Gesandte für das Herzogthum Warschau,
de Pratt, Erzbischof von Mecheln, sitzt ohne Ahnung des Geschehenen in seinem
Zimmer; da tritt eine bis zur Unkenntlichkeit in Pelze gehüllte Gestalt herein.
"Sie sind es, Caulaincourt? Wo ist der Kaiser?" so ruft nach einer stummen
Pause der Gesandte, der weiß, daß dieser Getreue seinem Herrn niemals von
der Seite wich. "Im Englischen Hofe," erwiedert der Gefragte. "Und die


und zugleich seine Aufforderung, sich mit Oesterreich zu verständigen zum Ab¬
falle von Frankreich.

Jetzt durfte man zu hoffen wagen; Hardenberg fand den Muth, neue
Forderungen Napoleon's auf eine ansehnliche Verstärkung des preußischen
Hilfskorps mit dem Hinweis ans die völlige Erschöpfung des Landes abzu¬
lehnen. Noch ahnte man aber nichts von dem erbarmungslosen Verderben,
das schon über die „große Armee" hereingebrochen war. Am 18. und 19.
Oktober hatte Napoleon die Hauptstadt geräumt, war nach dem unglücklichen
Versuche, in südlicher Richtung über Malo - Jaroslawez nach Kaluga durchzu¬
brechen, zurückgegangen auf die alte entsetzlich verwüstete Straße über Smolensk,
die keine Möglichkeit der Erhaltung sür seine Tausende bot. Als er — am
9. November — das verödete Smolensk erreichte, da hatte der russische Winter
sein Werk vollbracht: kaum 40000 Mann hielt der Imperator noch von
100000 Mann des Zentrums, die Moskau verlassen, unter Waffen, alles
andere bestand aus wehrlosen Haufen ohne jede militärische Ordnung; 350
Geschütze waren seit Moskau verloren, und wie der Donner einer großen
Schlacht hallte auf der ganzen Rückzugsstraße der Schall der Explosionen,
welche die verlassenen Munitionswagen zerstörten. Noch hoffte man in Wilna,
dem diplomatischen Hauptquartier, der strategischen Basis des ganzen Zuges,
wo der Herzog von Bassano den Kaiser vertrat, umgeben von den Gesandten
aller verbündeten Staaten, die Armee werde sich an der Dura und am Dujepr
halten können, und der preußische Gesandte General v. Krusemark sah aus
dieser Möglichkeit nur neue furchtbare Lasten für fein armes Vaterland her¬
vorgehen (Bericht vom 21. Nov.). Aber schon am 8. Dezember wußte man in
Berlin, auch Smolensk sei nicht zu halten gewesen, ja selbst der Rückzug auf
Wilna über die Beresina bedroht. Wenige Tage später — am 14. — meldete
der Postmeister in Glogau, Napoleon habe auf der Reise nach Paris die
Stadt passirt.

Ja, der Allgewaltige war auf der Flucht. Er hatte sein geopfertes Heer
verlassen, nachdem er es über die Beresina geführt und unbewegt den unaus¬
sprechlichen Jammer mit angeschaut (26. und 27. November). Am 10. Dezember
war er in Warschau eingetroffen, im Englischen Hofe abgestiegen. Wer fühlte
nicht das sprachlose Entsetzen jener Szene mit, die damals sich dort abspielte!
Der außerordentliche französische Gesandte für das Herzogthum Warschau,
de Pratt, Erzbischof von Mecheln, sitzt ohne Ahnung des Geschehenen in seinem
Zimmer; da tritt eine bis zur Unkenntlichkeit in Pelze gehüllte Gestalt herein.
„Sie sind es, Caulaincourt? Wo ist der Kaiser?" so ruft nach einer stummen
Pause der Gesandte, der weiß, daß dieser Getreue seinem Herrn niemals von
der Seite wich. „Im Englischen Hofe," erwiedert der Gefragte. „Und die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/214>, abgerufen am 27.09.2024.