Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.Armee?" "Sie ist todt." Und als der Minister vor den Kaiser tritt, noch Armee?" „Sie ist todt." Und als der Minister vor den Kaiser tritt, noch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0215" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142170"/> <p xml:id="ID_602" prev="#ID_601" next="#ID_603"> Armee?" „Sie ist todt." Und als der Minister vor den Kaiser tritt, noch<lb/> bebend unter der Wucht des Furchtbaren, da gesteht ihm der Imperator<lb/> rund heraus: „Bis zum 6. November war ich Meister von Europa; ich<lb/> bin es nicht mehr." Aber Meister von Frankreich wenigstens wollte er<lb/> bleiben, er wollte nach Paris, dort „einschlagen wie eine Bombe". In flie¬<lb/> gender Eile ging es vorwärts; am 12. Dezember war er in Glogau, am 14.<lb/> Abends hielt sein Bauernschlitten im Hofe des Schlosses zu Dresden, kaum<lb/> nahm der Kaiser sich die Zeit, zwei Briefe nach Berlin und Wien zu richten;<lb/> vier Tage später, am 18. Nachts 11 Uhr, langte er in den Tuilerien an. Ganz<lb/> Paris und mit ihm Frankreich war in namenloser Bestürzung, denn am Tage<lb/> vorher hatte der Moniteur das berufene Bulletin von Malodetschno publizirt,<lb/> das, nachdem man seit Monaten von nichts anderem als von Siegen ver¬<lb/> nommen, die Vernichtung des glänzendsten Heeres, welches die Welt noch ge¬<lb/> sehen, mit dürren Worten eingestand. Kaum ein Haus war in dem weiten<lb/> Reiche, das nicht seinen Todten hatte. Aber Napoleon kannte seine Franzosen;<lb/> er ließ ihnen keine Zeit, über das Entsetzliche nachzudenken, eben deshalb war<lb/> das Bulletin erst einen Tag vor seiner Ankunft veröffentlicht worden, und der<lb/> Eindruck, den es hervorgebracht, verschwand beinahe vor dem der unerwarteten<lb/> Kunde, der Kaiser sei in Paris. Ja, Frankreich athmete auf bei dieser Nach¬<lb/> richt; drohte doch in des Kaisers Abwesenheit Alles aus den Fugen zu gehen<lb/> in diesem straff zentralisirten Staate, der nur zu leben vermochte, wenn eine<lb/> übermächtige Kraft ihn lenkte, und — so paradox es klingt — den ärgsten<lb/> Schrecken hatte nicht das Bulletin von Malodetschno hervorgerufen, sondern<lb/> die Furcht, der Kaiser werde neue, unabsehliche Opfer an Geld und Menschen<lb/> fordern. Und er verlangte sie nicht, er erklärte, bis zum September 1813<lb/> keiner neuen Leistungen zu bedürfen. Es setzt uns jetzt nicht mehr in Erstaunen,<lb/> wenn wir sehen, daß er damit eine bewußte Lüge aussprach; er war von vorn¬<lb/> herein entschlossen, im Frühjahr den russischen Krieg wieder aufzunehmen mit<lb/> riesigen Streitkräften; aber er verstand es, die Aufmerksamkeit von seinen<lb/> Rüstungen abzulenken durch das dröhnende Getöse, mit dem seine offizielle<lb/> Presse den hirnlosen Pulses des Generals Mallet behandelte, der ein Gerücht<lb/> von des Kaisers Tod benützt hatte, um sich vorübergehend selbst in den Besitz<lb/> der Gewalt zu setzen, und durch pomphafte Vorbereitungen zur Krönung der<lb/> Kaiserin und ihres Sohnes. So spurlos war das ungeheuere Gottesgericht<lb/> an diesem Manne vorübergegangen; nicht die leiseste Ahnung war in ihm<lb/> lebendig, daß er die Sonnenhöhe seines Ruhmes überstiegen habe, dem Ab¬<lb/> grunde zutreibe. Denn nie hat er etwas geahnt von den Kräften des Gemüths.<lb/> Die auch noch etwas Anderes als eine straffe Verwaltung, ein schlagfertiges<lb/> Heer und wohlgeordnete Finanzen für nothwendig hielten, damit ein Staat</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0215]
Armee?" „Sie ist todt." Und als der Minister vor den Kaiser tritt, noch
bebend unter der Wucht des Furchtbaren, da gesteht ihm der Imperator
rund heraus: „Bis zum 6. November war ich Meister von Europa; ich
bin es nicht mehr." Aber Meister von Frankreich wenigstens wollte er
bleiben, er wollte nach Paris, dort „einschlagen wie eine Bombe". In flie¬
gender Eile ging es vorwärts; am 12. Dezember war er in Glogau, am 14.
Abends hielt sein Bauernschlitten im Hofe des Schlosses zu Dresden, kaum
nahm der Kaiser sich die Zeit, zwei Briefe nach Berlin und Wien zu richten;
vier Tage später, am 18. Nachts 11 Uhr, langte er in den Tuilerien an. Ganz
Paris und mit ihm Frankreich war in namenloser Bestürzung, denn am Tage
vorher hatte der Moniteur das berufene Bulletin von Malodetschno publizirt,
das, nachdem man seit Monaten von nichts anderem als von Siegen ver¬
nommen, die Vernichtung des glänzendsten Heeres, welches die Welt noch ge¬
sehen, mit dürren Worten eingestand. Kaum ein Haus war in dem weiten
Reiche, das nicht seinen Todten hatte. Aber Napoleon kannte seine Franzosen;
er ließ ihnen keine Zeit, über das Entsetzliche nachzudenken, eben deshalb war
das Bulletin erst einen Tag vor seiner Ankunft veröffentlicht worden, und der
Eindruck, den es hervorgebracht, verschwand beinahe vor dem der unerwarteten
Kunde, der Kaiser sei in Paris. Ja, Frankreich athmete auf bei dieser Nach¬
richt; drohte doch in des Kaisers Abwesenheit Alles aus den Fugen zu gehen
in diesem straff zentralisirten Staate, der nur zu leben vermochte, wenn eine
übermächtige Kraft ihn lenkte, und — so paradox es klingt — den ärgsten
Schrecken hatte nicht das Bulletin von Malodetschno hervorgerufen, sondern
die Furcht, der Kaiser werde neue, unabsehliche Opfer an Geld und Menschen
fordern. Und er verlangte sie nicht, er erklärte, bis zum September 1813
keiner neuen Leistungen zu bedürfen. Es setzt uns jetzt nicht mehr in Erstaunen,
wenn wir sehen, daß er damit eine bewußte Lüge aussprach; er war von vorn¬
herein entschlossen, im Frühjahr den russischen Krieg wieder aufzunehmen mit
riesigen Streitkräften; aber er verstand es, die Aufmerksamkeit von seinen
Rüstungen abzulenken durch das dröhnende Getöse, mit dem seine offizielle
Presse den hirnlosen Pulses des Generals Mallet behandelte, der ein Gerücht
von des Kaisers Tod benützt hatte, um sich vorübergehend selbst in den Besitz
der Gewalt zu setzen, und durch pomphafte Vorbereitungen zur Krönung der
Kaiserin und ihres Sohnes. So spurlos war das ungeheuere Gottesgericht
an diesem Manne vorübergegangen; nicht die leiseste Ahnung war in ihm
lebendig, daß er die Sonnenhöhe seines Ruhmes überstiegen habe, dem Ab¬
grunde zutreibe. Denn nie hat er etwas geahnt von den Kräften des Gemüths.
Die auch noch etwas Anderes als eine straffe Verwaltung, ein schlagfertiges
Heer und wohlgeordnete Finanzen für nothwendig hielten, damit ein Staat
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |